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Selige Witwen

Selige Witwen

Titel: Selige Witwen
Autoren: Ingrid Noll
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Rotkreuzsäcke kontrolliert und alles wieder brav zurückgebracht, was er nicht gebrauchen konnte. »Hast du etwa Angst?« fragte er, »schließlich sind es Sachen, die eh im Reißwolf landen. Du kannst dich darauf verlassen, daß es Spaß macht.«
    So einen kühnen Coup hatte ich schon lange nicht mehr gewagt. Stets hatte mir Cora großzügig das Portemonnaie überlassen, wenn ich einkaufen ging; ich war abhängig von ihr geworden wie ein Junkie. »Okay«, sagte ich, drückte die Zigarette aus, klopfte bei Kathrin an und bat sie, gelegentlich nach dem schlafenden Bela zu sehen.
    Der kleine Ausflug ins Nobelviertel war tatsächlich eine Gaudi. Nur bei den schicksten Jugendstilvillen hielten wir an und warfen den Kleidersack blitzschnell ins Taxi. Andy steckte mich mit seinem kindlichen Jagdfieber an, bis schließlich zehn Säcke den Fond des Wagens füllten.
    Mitten auf dem Küchenboden leerten wir den ersten Sack aus, wobei ich mich neugierig fragte: Was warfen reiche Leute weg? Verschaffte ihnen die Vorstellung, daß ärmere Menschen ihre alten Socken auftrugen, einen besseren Schlaf?
    Vorerst stießen wir nur auf Herrensakkos, gediegen und altmodisch, nichts für einen Studenten, überdies viel zu groß. Ganz unten lagen mindestens zehn ausgeleierte, vergilbte oder ergraute BHS, wie ich sie selbst besaß. Wir stopften schleunigst alles wieder hinein und schütteten die nächste Portion aus.
    »Pfui!« sagte ich. »Jetzt stinkt es. Samt und sonders ungewaschen. Das mag ich gar nicht näher untersuchen.«
    Auch Andy hatte Probleme, die unappetitlichen Fetzen anzufassen.
    Erst beim achten Sack wurde es erfreulich, denn jedes Stück war sauber und gebügelt. Ich zog ein seidenes Nachthemd heraus, zwar aus einem anderen Jahrzehnt, aber von edler Qualität und mit zarten Stickereien geschmückt: wie für die Hochzeitsnacht einer Prinzessin. Elegante Damenkleider, Kaschmirpullover mit ein paar Mottenlöchern, ein paillettenbesetztes Abendkleid, ein Wintermantel aus feinstem englischem Tuch, kaum getragen. Auch ein paar Herrenartikel waren dabei, die auf einen schlanken älteren Herren hinwiesen. Wir begannen auf der Stelle mit der Anprobe.
    Andy im Smoking, ich in langer Robe - so traten wir vor Kathrin. »Boulevardtheater?« fragte sie.
    Der Inhalt des letzten Sacks schien von der Trapp-Familie zu stammen: folkloristische Kleidung für Vater, Mutter und Kind. Ich suchte mir das feinste Dirndlkleid aus, für Bela die kleinsten Lederhosen. Andy fuhr noch einmal los, um das übrige Gelumpe wieder auszusetzen.
    Als ich längst eingeschlafen war, weckte mich ein zärtlicher Kuß. Ich fuhr hoch.
    »Hast du das seidene Nachthemd an?« flüsterte Andy.
    Da wurde Bela wach. »Hau ab!« sagte mein Sohn.
    Ohne gekränkt zu sein, brachte uns der Taxifahrer am nächsten Morgen zum Bahnhof. Bela war in seinem jungen
    Leben noch nicht allzu oft Taxi gefahren, gab sich aber dennoch sehr weltmännisch. »Alla stazione, per favore!« sagte er zu Andy.
    »Um 11.22 Uhr seid ihr in Mannheim und müßt umsteigen, zehn Minuten später geht es weiter nach Freiburg.
    Schaffst du das ohne Hilfe?« fragte Andy.
    »Klar«, meinte ich, »aber nicht ohne Fahrkarte. Du kriegst das Geld zurück, wenn ich heute abend heimkomme.«
    Kaum saßen wir im Abteil, als Belas Laune schon zu wünschen übrigließ. Er schimpfte über die kratzende Lederhose.
    »Zieh mir die Pantaloni aus! Aber subito!« verlangte er.
    Auch ich bereute bereits, daß ich nicht die noch feuchten Jeans, sondern das Dirndl trug. Wenn wir in dieser Aufmachung daherkamen, konnte Jonas glauben, ich hätte mich für ein gemeinsames Leben auf dem Bauernhof entschieden.
    Oder - schlimmer noch - ich wollte mich über ihn lustig machen.
    Jonas erwartete seinen Sohn mit ausgebreiteten Armen am Bahnsteig. Bela stürzte auf ihn zu und rief: »Babbo, babbo, trattore fahren!«, denn mit dieser großen Attraktion hatte ich ihn für unsere Reise motiviert. Ich wollte mich eigentlich auf der Stelle verabschieden, folgte ihnen aber anstandshalber noch auf eine Tasse Kaffee ins Bahnhofsbistro.
    Jonas sah im Sommer stets gut aus, kerngesund und muskulös; seine Hundeaugen ruhten wohlgefällig auf mir. »Gut steht dir das Dirndl«, meinte er. »So hab' ich dich noch nie gesehen! Willst du nicht für einen Tag mit uns auf den Hof kommen?«
    Für einen Tag bedeutete auch für eine Nacht. Aber ich wollte nicht in die Falle seiner braungebrannten Arme tappen und behauptete, wenig Zeit zu haben.
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