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Seit jenem Tag

Seit jenem Tag

Titel: Seit jenem Tag
Autoren: Eleanor Moran
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während Mum durch ihre riesige Sonnenbrille mit kritischem Blick die schäbige Fassade meines Studentenheims musterte. Dad schleifte mein Gepäck die Treppe hoch und weigerte sich, die angebotene Hilfe anzunehmen, als würde ihn das in seiner Männlichkeit noch mehr beschneiden. Mum und ich klapperten ihm hinterher. Sally war die allererste Person, die ich sah, sie stand in der Küche und hielt einen riesigen Becher mit einem Cartoonaufdruck in ihrer Hand, auf dem zu lesen stand: Die beste Tochter der Welt . Beim Anblick von Dads rot verschwitztem Gesicht weitete sich ihr Gesicht zu einem spontanen Grinsen.
    »Soll ich mit anpacken?«, fragte sie, als sie uns drei bemerkte. Ihre Stimme war ein wenig nasal und von einer Fröhlichkeit, die meilenweit von unserer traurigen repressiven Mittelklasseexistenz entfernt war. Sie strahlte eine so unmittelbare Zuversicht aus, als könnte sie mit einem Blick alles erfassen und wüsste ihren Platz im Leben genau zu benennen. Es waren die Mittneunziger. Die Spice Girls beherrschten die Charts, und Sally strahlte etwas von deren Dreistigkeit aus. Sie trug ein rotes Minikleid aus Lycra und dazu eine schwarze Wollstrumpfhose, ohne die sie ausgesehen hätte, als käme sie direkt aus einer durchfeierten Nacht in der Disco. Ihr schwarzes Haar (vermutlich gefärbt, sicher war ich mir allerdings nicht) war zu einem kompliziert gestuften Bob geschnitten, den eine dicke Schicht Haarspray in Form hielt und dessen Volumen die vielen Stunden verriet, die sie mit hängendem Kopf unter dem Fön verbracht hatte. Sie war mager – der elastische Stoff, der ihre hervortretenden Beckenknochen umspannte, betonte dies –, hatte einen knackigen Po. Sie hatte strahlend blaue Augen, die ständig umherstreiften und Informationen sammelten. Als sie mich musterte, zog ich meinen Parka enger um meinen Leib, weil ich mich wegen meiner schlecht sitzenden Jeans und meines warmen grünen Pullovers schämte: Ich hatte einfach was Dickes angezogen, um nicht zu frieren, wohingegen Sally einen Look kreiert hatte, bei dem jedes Kleidungsstück zum anderen passte.
    Es war unmöglich, sich ihrer Wirkung zu verschließen – man fühlte sich von ihr magisch angezogen –, aber sie war eher attraktiv als hübsch, denn hübsch sein setzt eine Weichheit voraus, die Sally nur selten zuließ. Vermutlich war ich sogar hübscher, auf eine stille Art, die ich erst noch entdecken musste: Mein dunkelblondes Haar war dick und lang, doch ich hatte keine Ahnung, wie ich es frisieren sollte, sodass ich es einfach herunterhängen ließ, und mit meinem Make-up, das aus ein paar billigen Produkten von Boots bestand, schaffte ich es nie, meine haselnussbraunen Augen zu betonen, und vor Lippenstift hatte ich Angst, weil ich mir am Ende immer die Zähne anmalte. Und was meine durchaus gute Figur anging – da ich ständig in sackartigem Strick steckte, brachte ich sie nie zur Geltung. Kein Wunder, dass Sally mich so gründlich mit ihren Augen scannte – sie wusste immer, wann jemand reif für eine optische Veränderung war.
    »Sehr freundlich, aber ich habe alles im Griff«, erwiderte Dad und ließ die Koffer ein wenig zu heftig fallen, um zu überzeugen. Er schaute sie wie gebannt an. »Jeremy Harper«, ergänzte er und streckte seine Hand aus.
    »Sally Atkins«, sagte sie und beugte sich im selben Moment vor, um ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken. Sie machte sich über ihn lustig.
    Ich fand es verstörend, wie sie es schaffte, uns mit wenigen Gesten bloßzustellen. »Ich bin Olivia, und ich glaube, das ist mein Zimmer«, sagte ich und zeigte auf die Tür.
    »Ich komme später zu dir, ja? Ein paar von uns gehen dann runter an die Bar. Talente aufspüren«, ergänzte sie mit einem boshaften Lachen.
    »Auf jeden Fall. Ich denke, wir werden noch was essen gehen, aber sollte ich da sein, kannst du mit mir rechnen.« Wie schrecklich sich das anhörte, wie eine Persiflage auf die dämliche Gymnasiastin, die ich war.
    Daraufhin meinte sie neckisch: »Nun komm schon, Mum und Dad werden doch sicher Verständnis haben.«
    Ich sah die beiden an und malte mir unser peinliches Abendessen aus, wenn wir zur Feier des Tages miteinander anstießen, ohne uns über die üblichen Differenzen hinwegtäuschen zu können. Mum lächelte sie an, angetan von ihrer Frechheit.
    »Ich werde sehen, was sich tun lässt«, gab ich nach.
    »Du machst das schon«, meinte Sally hartnäckig. Sie hielt meinen Blick fest, grinste mich an, und ich fühlte mich
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