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Sein Anteil

Sein Anteil

Titel: Sein Anteil
Autoren: Holger Wuchold
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können, als er sie festhielt und sie auf Nikita saß, wenn sie es nur wirklich gewollt hätte. Nein, er hatte sich nichts vorzuwerfen. Nichts, außer dass auch er leben wollte.
    Aber musste er sich überhaupt für irgendetwas entschuldigen? Jede Entschuldigung war klein und kläglich. War sein Schuldgefühl nicht nur eine Dummheit gewesen, nur das Produkt eines schrecklichen Wahns, dass es eine Schuld gebe? Willem wurde klar, dass das, was er getan hatte, nur ein Reflex gewesen war, nur aus Furchtsamkeit geschehen war. Seine Schuld schien ihm ebenso banal wie das Böse selbst. Sie war nichts weiter als Ausdruck seiner Angst gewesen.
    Ein leichter Wind kam herab von den Bergen, ging über den See hinweg, kam auf Willem zu, strich durch sein Haar. Er schauderte für einen Moment. Dann war die Luft wieder still und klar. Jedes Schuldgefühl war verflogen, vertrieben von seinem Willen zu leben. Ja, er würde leben, immer wieder ja, sagte er laut zu sich. Aber er schämte sich nicht mehr, laut zu sich selbst zu sprechen. Denn es waren nicht mehr Worte der Verzweiflung, die er sprach, sondern Worte seines neuen Lebenswillens.
    Ja, er würde leben, leben mit ihr, Anne-Marie, früher oder später. Auch diese Herausforderung würde er meistern, wie er Nikitas Sterben und Pias Lust gemeistert hatte, alles.
    Willem erhob sich, heiter und gelassen, verließ das Ufer und setzte seinen Spaziergang nach Silvaplana fort. Er ging durch den Ort hindurch bis zu einem Bach, stieg einen steilen Waldweg hinauf, der ihn nun auf der anderen Seite des Sees zurück nach Sils-Maria führte.
    Morgen würde er es wagen. Er würde nach London zurückkehren. Während sich vielleicht schon in wenigen Wochen Schnee auf die Schweizer Berge legte, würde sich in London der Herbst noch halten, dachte Willem, für ihn die schönste Jahreszeit, um durch den Holland Park zu streifen. Ja, er würde nach London zurückkehren, wo jetzt das Leben auf ihn wartete.

 
22
     
     
     
    Am späten Vormittag des übernächsten Tages verließ Willem mit der Fähre Calais. Es war ein herrlicher Spätsommertag. Die Sonne glitzerte in den lebendigen Wogen. Und der frische Seewind trieb am blauen Himmel eine Herde weißer Wolken nach Osten. Willem war froh, nicht noch einmal die Strecke mit dem Zug durch die gespenstische Röhre unterhalb des Kanals zurücklegen zu müssen.
    Kaum an Bord, fühlte er sich bereits zurück in England. Eine Gruppe englischer Schulmädchen spielte um ihn herum Fangen. Englische Touristen schütteten freudig nach ihrem Ausflug auf den Kontinent ihr erstes Pint heimischen Lagers in sich hinein. Willem selbst trank ein großes Glas Bitter und knabberte genüsslich Kartoffelchips, beides Dinge, die er sonst verabscheute, aber passend fand, um seine Rückkehr auf die britische Insel still für sich zu feiern. Knapp neunzig Minuten dauerte die Überfahrt. Und Willem hätte noch länger den fetten Möwen zuschauen können, die neugierig das Schiff umkreisten, wenn London nicht auf ihn gewartet hätte.
    Mit geöffnetem Verdeck eilte er in seinem Alfa durch Kent der Sonne entgegen, unter der genau London liegen musste. Der Anblick der Flugzeuge am Himmel, die zur Landung in Heathrow ansetzten, löste eine fast kindliche Freude bei ihm aus, die sich noch steigerte, als er die ersten Londoner Vororte erreichte. Ab Hammersmith kroch die Autoschlange mühsam Meter für Meter in die Stadt. Willem ließ Earl’s Court rechter Hand liegen, um den Stau im Zickzack durch South Kensington zu umfahren. Vor einem modernen Appartementhaus auf der rechten Seite der Sloane Avenue hielt Willem an, sprang aus dem Alfa heraus. »The New Chelsea Cloisters« stand in goldener Schrift auf der grünen Markise über dem Eingang.
    Ein freundlicher Portier zeigte Willem ein leer stehendes Appartement im fünften Stock. Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer, Bad, alles kam ihm im Vergleich zu seiner bescheidenen Unterkunft, die er vor fast fünf Wochen verlassen hatte, geradezu luxuriös vor. Zudem gehörte zu der Wohnung ein Einstellplatz in der Tiefgarage. Der Preis von fünfhundert Pfund die Woche kam Willem angemessen vor. Die Miete für einen Monat legte er bar auf den Tisch im Foyer. Eine halbe Stunde später kam Willem aus der Dusche und ließ sich lang auf das Bett fallen und schlief ein, glücklich wieder in London zu sein.
    Am frühen Abend ging Willem ins »Oriel«. Die übliche Angestelltenschar hatte bereits das ganze Lokal in Beschlag genommen. Willem blieb
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