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Sein Anteil

Sein Anteil

Titel: Sein Anteil
Autoren: Holger Wuchold
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London gehörte ihm wie er London gehörte. Denn die Stadt empfing alle Fremden, die kamen und dort leben wollten, gleich welcher Nationalität, mit gerechter Gleichgültigkeit. Alles hing von einem selbst ab. In London, dachte Willem, konnte sich jeder neu erfinden.
    Je länger Willem durch Belgien fuhr, desto stärker hatte er das Gefühl, wieder von seiner Vergangenheit eingeholt zu werden. Gent, Brüssel, Antwerpen, die Ortsnamen auf den Schildern markierten auch Stationen seines Lebens, aber eines bereits abgelegten Lebens, das er nicht mehr aufnehmen wollte. Er musste weiter, unbedingt.
    Nur einmal hielt er kurz auf belgischem Boden an, um zu tanken, zu essen und Kaffee zu trinken. Es war merkwürdig für ihn, wieder Flämisch zu sprechen. Die Worte, seine eigene Stimme klangen fremd in seinen Ohren. Zum ersten Mal wurde Willem bewusst, dass er seit langem englisch dachte.
    Gleich hinter der deutschen Grenze wurde der Verkehr dichter und aggressiver. Willem fühlte sich an die Rushhour in London erinnert, und die Deutschen kamen ihm wie die Londoner Pendler vor, das gleiche Ameisenvolk. Gleichgültig durchquerte er das Land in Richtung Süden.
    Am späten Abend passierte Willem die Schweizer Grenze. Am erstbesten Rasthaus hielt er an. Er mietete sich ein Zimmer, das noch kleiner war als seins in London.
    Willem ging gleich zu Bett. Eine Tüte Erdnüsse und ein Bier aus der Minibar waren sein Abendbrot. Er schaltete einen Musiksender ein, stellte den Ton aber ab. Während er auf die hektischen Bildfolgen der Videoclips starrte, ging er in Gedanken nochmals den Artikel aus der »Times« durch und überlegte, was Michail über ihn wusste. Eigentlich war es nicht mehr als sein Vorname, und dass er Belgier war und als Journalist gearbeitet hatte. Mehr konnte es nicht sein, falls Nikita nicht mit Michail über ihn und die Entführung gesprochen hatte.
    Er nahm sich vor, am nächsten Morgen nach Zürich weiterzufahren, um dort sein Lösegeld auf einer Schweizer Bank zu deponieren, und schlief dann vor laufendem Fernseher ein.
    »Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?«
    Eine attraktive Blondine, vielleicht Mitte bis Ende zwanzig, warf Willem mit zartroten Lippen ein freundliches Lächeln entgegen. Willem hatte eigens einen Anzug angezogen. Dennoch kam er sich recht deplaziert vor. Vor allem die schwarze Sporttasche mit der weißen Aufschrift »Chelsea Health Club«, dachte Willem, passte ganz und gar nicht zu der unterkühlten und distinguierten Atmosphäre der reich mit Messing und Marmor ausgestatteten Schalterhalle. Aber niemand schien daran Anstoß zu nehmen, nicht einmal der uniformierte Wachmann, der ihm höflich die Tür aufgehalten hatte. Sich über nichts zu wundern, schien zum Geschäftsgebaren Züricher Banken zu gehören.
    Willem überlegte einen Augenblick. Sein Deutsch war nicht mehr das Beste, auch wenn er gelegentlich deutsche Zeitungen las.
    »Ich bin gekommen, um ein Konto zu eröffnen.«
    »Wenn Sie bitte hier Platz nehmen möchten.« Die Blondine zeigte auf eine Sitzgruppe aus schweren schwarzen Lederpolstern. »Ich werde sofort den zuständigen Manager verständigen.«
    Willem war zu nervös, um sich zu setzen. Er blieb stehen und wartete, bis die Blondine das Telefonat beendet hatte. Wieder lächelte sie.
    »Der Manager kommt jeden Moment.«
    Eine Minute später kam ein großer schlanker Mann in einem dunkelblauen, akkurat sitzenden Anzug auf ihn zu. Sein schütteres Haar hatte er mit Pomade straff zurückgekämmt.
    »Guten Tag, ich bin Dr. Meyer. Sie wollen bei uns ein Konto eröffnen?«
    Willem brachte nur ein knappes Ja heraus.
    »Wenn Sie mir bitte in mein Büro folgen wollen. Dort sind wir ungestört.«
    Wenig später saß Willem diesem Herrn Meyer an einem Mahagonischreibtisch gegenüber. Ohne danach gefragt zu werden, erzählte Willem, dass er gerade aus London angekommen sei. Der Bankmanager wechselte sofort in ein akzentfreies Englisch über.
    »Darf ich fragen, welchen Betrag Sie bei uns hinterlegen wollen?«
    »Vierhundertfünfzigtausend Pfund.«
    Den Rest des Geldes wollte Willem behalten, um auf der Reise flüssig zu sein.
    »Ich vermute, Sie haben das Geld bei sich.«
    Dr. Meyer zwinkerte Willem zu und sah auf die Sporttasche, die zu Willems Füßen stand und die er immer noch mit der linken Hand festhielt. Dann hob der Manager zu einem kleinen Vortrag an, in dem er Willem mit den Gepflogenheiten eines Schweizer Kontos vertraut machte. Falls Willem es wünsche, könne er
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