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Sein Anteil

Sein Anteil

Titel: Sein Anteil
Autoren: Holger Wuchold
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Willem. Denn er konnte nicht bleiben, er musste weiter, auch wenn ihm immer gleichgültiger wurde, ob am Ende der Fahrt ihn Sieg oder Niederlage erwarteten. Er wollte nur von sich aus nicht aufgeben. Nur das trieb ihn an.
    Dann wurde es heller, der Regen weniger, aber der Wind noch heftiger. Die ersten Hinweisschilder auf den Kanaltunnel vibrierten im Sturm, häuften sich, bis ein Wald von Laternenmasten auf einer asphaltierten Anhöhe den Eingang zum Tunnel grell markierte.
    Willem hatte Glück. Er konnte ein Ticket für den nächsten Zug lösen. Eine halbe Stunde später rollte der weiße Alfa über die scheppernden Metallböden des Waggons. Die Türen wurden verriegelt, dann ein leichter Ruck, aber im gleißenden Neonlicht verlor Willem jedes Gespür dafür, dass der Zug sich bereits in Bewegung gesetzt hatte.
    Er schlug die »Times« auf. Auf Seite vier blieben seine Augen haften: »Hewitt-Mord vor der Aufklärung.« Hastig las er weiter: »Der bekannte Kunst- und Antiquitätenhändler Henry Hewitt wurde offenbar das Opfer russischer Krimineller. Der Tat dringend verdächtig ist der russische Student Michail Karatajew (26). Er soll gemeinsam mit seinem Komplizen Nikita Sergeij Basarow Hewitts Tochter Patricia entführt haben. Nach Angaben der Polizei schoss Karatajew auf Hewitt, als es bei der geplanten Lösegeldübergabe zu einem Schusswechsel kam. Hewitt verletzte dabei Nikita Basarow, wie eine eingehende Untersuchung von Basarows Leiche ergab, die vor wenigen Tagen in Süd-London gefunden wurde. Michail Karatajew wird auch von der Polizei beschuldigt, seinen schwer verletzten Komplizen erstickt zu haben. Den weißen Lieferwagen, der bei der Entführung benutzt wurde und auf Karatajews Namen angemeldet ist, konnte die Polizei bereits sicherstellen.«
    Willem schlug seinen Kopf gegen das Lenkrad. Er kurbelte das Fenster runter, schnappte nach Luft. Das Neonlicht im Zug blendete ihn. Er hatte es doch gleich gewusst: Michail war die Schwachstelle. Und sein weißer Lieferwagen. Aber warum war die Polizei erst jetzt auf Michail gekommen? Hatte ihr jemand einen Tipp gegeben? Willem schnappte weiter nach Luft. Was würde Michail jetzt tun? Ob er sich der Polizei stellte?
    Wahrscheinlich nicht. Er müsste schon ein hieb- und stichfestes Alibi vorweisen können. Der einzige Trost war: Die Polizei glaubte immer noch, dass neben Nikita ein weiterer Mann an der Entführung beteiligt gewesen war. Anne-Marie hatte wohl Pia auf dem dunklen Parkplatz für einen Mann gehalten. Und ihre Tochter war entweder nicht vernommen worden, oder die Polizei hatte ihr nicht geglaubt, weil sie es schlichtweg für unmöglich hielt, dass eine Frau Hewitt erschossen hatte und vor allem dass eine Frau Nikita erstickt und anschließend auf die Gleise geschleppt hatte. Aber Michail würde in jedem Fall verhört, gleich ob er sich selbst der Polizei stellte oder die Polizei ihn verhaftete. Willem glaubte, immer weniger Luft zu bekommen. Wann verließ der Zug endlich den Tunnel? Wann konnte er endlich raus aus dieser verfluchten Röhre?
    Es war wie eine Ewigkeit, bis der Zug die Oberfläche erreichte und sich die Wagen vor ihm im Waggon einer nach dem anderen in Bewegung setzten. Willem drehte den Zündschlüssel um. Sein Alfa sprang nicht an! Willem versuchte es nochmals. Doch nichts rührte sich. Erst nach zwei weiteren Versuchen röhrte der Motor auf. Aber Willem ließ die Kupplung zu schnell kommen, so dass der Alfa einen Satz nach vorne machte und wieder ausging. Er drehte wieder den Zündschlüssel, trat mehrmals das Gaspedal kräftig durch, der Motor blieb an. Endlich konnte auch Willem den Zug verlassen.
    Frankreich empfing ihn mit einem von Wolken verhangenen Himmel. Aber es regnete wenigstens nicht. Willem war sich nicht sicher, welche Richtung er nehmen musste. Stur folgte er der Kolonne vor ihm, bis ein Hinweisschild nach Belgien ihm die Entscheidung erleichterte. Er hatte seit mehr als zwei Jahren sein Heimatland nicht gesehen, und auch damals nur kurz, um seine Kündigung in Empfang zu nehmen. Flach breitete es sich vor ihm aus.
    Heimatland? Gut, er war immer noch Belgier, und er konnte sich auch nicht vorstellen, etwas anderes als Belgier zu sein. Aber Heimatland? Andererseits passte das Land zu ihm, dachte Willem, mit seinen zwei Kulturen, die zu einem nicht recht fassbaren Ganzen verschmolzen waren. Aber Belgien war ihm dennoch fremd geworden. Es war nicht mehr sein Zuhause.
    Das war auch nicht England. Sein Zuhause war London.
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