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Sein Anteil

Sein Anteil

Titel: Sein Anteil
Autoren: Holger Wuchold
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es jetzt weitergehen soll. Ich kann mir ein Leben ohne meine Mutter gar nicht vorstellen.«
    Willems Mutter war noch am Leben, nahm er jedenfalls an. Er hatte keinen Kontakt mehr zu seiner Familie. Vielleicht war sie auch schon tot.
    »Aber keine Bange«, sagte der Mann, »ich bringe mich nicht um. Das kommt für mich nicht in Frage.« Der Mann schien Willems Gedanken lesen zu können. »Nein, ich bin auch kein Muttersöhnchen. Es hat immer in meinem Leben Frauen gegeben, gibt es auch jetzt. Aber immer kam meine Mutter an erster Stelle. Sie war krank, schon lange. Sie brauchte wirklich meine Hilfe.«
    Er nahm einen Schluck von seinem Bitter und sagte dann: »Wissen Sie, was mich jetzt am meisten ärgert?«
    Willem konnte ihm keine Antwort geben.
    »Bei der Beerdigung werden alle, die Verwandten, Freunde und Nachbarn, sagen, dass der Tod meiner Mutter für mich eine Erlösung sei. Das ist kompletter Unsinn. Ich habe sie nie als Belastung empfunden, auch nicht in den letzten Monaten, als sie gar nichts mehr alleine machen konnte.« Der Mann hatte sich richtig in Rage geredet und dabei seine Trauer fast verdrängt. »Wissen Sie, meine Mutter war ein wirklicher kluger Mensch. Sie hatte immer etwas zu sagen, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Der Mann trank sein Bier aus. »Trinken Sie noch einen mit?«, fragte er nun beinahe fröhlich.
    Willem wusste aber, dass er keinen weiteren Whisky vertrug, beim besten Willen nicht.
    »Bitte, entschuldigen Sie! Aber ich bin müde. Und mir steht morgen eine lange Reise bevor. Vielleicht ein andermal.«
    »Ist schon gut. Ich danke Ihnen jedenfalls, dass Sie mir zugehört haben. Das macht nicht jeder. Sie sind ein prima Kerl. Die Leute in London sind so kalt geworden. Übrigens: Ich heiße John.«
    »Freut mich, John. Ich heiße Willem.«
    »Ich werde noch etwas bleiben.«
    Willem nickte.
    »Auf Wiedersehen.«
    »Auf Wiedersehen.«
    Willem dachte, dass dieser John eigentlich ein glücklicher Mensch sein müsste, weil er auf eine glückliche Zeit zurückschauen konnte. Aber es hätte keinen Zweck, ihn um sein Glück zu beneiden. Er wüsste mit dem Glück des Fremden nichts anzufangen.

 
20
     
     
     
    Draußen tobte ein Sturm, der schwere Regengüsse gegen das Fenster peitschte. Es war erst kurz nach sechs Uhr. Doch Willem hielt es nicht länger im Bett aus, obwohl er die Nacht kaum geschlafen hatte. Und er hatte schlecht geträumt. Nur daran konnte er sich erinnern, aber nicht daran, was er geträumt hatte. Der Koffer, die Reisetasche, die schwarze Tasche mit dem Geld – alles stand parat. Selbst der Revolver schien nur darauf zu warten, endlich vom Tisch genommen zu werden.
    Nach einer Viertelstunde war Willem zur Abfahrt bereit. Wie angewurzelt blieb er einen Moment in dem Zimmer stehen, das bereits unbewohnt, steril und anonym wie ein Hotelzimmer wirkte, in dem er bestenfalls eine Nacht verbracht hatte. Hatte er auch nichts vergessen? Doch, den Schirm. Er hing zusammengerollt im leeren Schrank.
    Willem zog die Wohnungstür hinter sich zu, ohne sich noch einmal umzuschauen. Sein Gepäck füllte den kleinen Kofferraum des Alfas aus. Schirm und Geldtasche verstaute er hinter den Sitzen, den Revolver legte er ins Handschuhfach. Er dachte kurz daran, dass der Revolver ihn bei einer Kontrolle verraten könnte. Aber er könnte ebenso wenig die Geldbündel hinter seinem Rücken erklären. Und eigentlich war ihm alles egal. Völlig durchnässt stieg er ins Auto.
    Den Wohnungsschlüssel warf Willem durch den Briefschlitz des Maklerbüros, ohne Umschlag, Gruß und Kommentar. Er hielt noch bei einem Zeitschriftenhändler in der Old Brompton Road an, ließ den Motor laufen, kam nach zwei Minuten mit der »Times« zurück und fuhr nach Westen Richtung Stadtautobahn. Nur schemenhaft konnte er die Häuser links und rechts erkennen. Regen und Dunkelheit verwischten seinen letzten Blick auf London.
    Angestrengt klemmte Willem hinter dem Lenkrad. Verzweifelt kämpften die kleinen Scheibenwischer gegen den Regen an. Wegen des Unwetters konnte er nicht schnell fahren. Dennoch geriet der leichte Wagen immer wieder ins Schwimmen, so dass Willem alle Mühe hatte, ihn in der Spur zu halten. Schier endlos zog sich die Fahrt dahin. Je weiter er sich von London entfernte, desto tiefer hing der schwarze Himmel, der auf die schwarz-grünen Hügel seitlich der grau glänzenden Straße drückte und den nahen Horizont verschlang.
    Am liebsten wäre er umgekehrt. Doch er durfte nicht nachgeben, sagte sich
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