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Sein anderes Gesicht

Sein anderes Gesicht

Titel: Sein anderes Gesicht
Autoren: Brigitte Aubert
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ich gar keine Frau bin, doch inzwischen hat sich die Aufregung gelegt. Alle sind sehr nett zu mir. Alle wissen, was man im Kühlraum gefunden hat. Ich bin ein Überlebender. Niemand weint Johnny eine Träne nach. Nicht mal ich.
    Mein Bettnachbar, ein alter Rentner, hat sich das Bein gebrochen, als er mit seinem Rauhaardackel spazieren ging. Der Rentner heißt Rene; sein Dackel Jojo. Rene hat mir am ersten Tag die ganze Geschichte erzählt, über zwei Stunden lang, inzwischen bekomme ich sie tagtäglich noch mal ein halbes Stündchen lang zu hören, für den Fall, dass ich sie vergessen haben sollte. Das Ganze hat sich fast genauso wie in 101 Dalmatiner abgespielt. Beide gingen im Park spazieren und genossen die laue Frühlingsluft. Plötzlich tauchte eine wunderschöne Dackeldame auf, die offensichtlich läufig war. Im gleichen Augenblick raste der wild gewordene Jojo hinter ihr her, schneller als ein junger Rekrut, der auf keinen Fall den Zug verpassen will, der ihn in sein Wochenende bringt.
    Dabei wickelte sich die Leine um Renes Beine, Rene verlor das Gleichgewicht und fiel auf eine nette alte Dame, die am Teich mit den toten Goldfischen saß. Bilanz der Operation »Herzklopfen«: Die nette alte Dame trug ein blaues Auge davon, Rene brach sich an der steinernen Bank das Schienbein. Er macht sich Sorgen um Jojo, der in der Zwischenzeit bei seiner Schwester untergebracht ist. Diese findet Jojo, den alten Schwerenöter, zu dick und zu verwöhnt und weigert sich, ihm seine Markknochen zu kaufen. Ich fühle mit Rene.
    Er sieht gerade fern; ich sehe aus dem Fenster. Die Mimosen blühen. Ein Mann und eine Frau unterhalten sich lachend. Der Mann berührt flüchtig die Hand der Frau, und die Frau zuckt nicht zusammen. Ich lasse meine Gedanken schweifen.
    Mossa ist gekommen. Er hat mir erzählt, dass ich ganze sechs Tage mit Elviras Leichnam im Kühlraum gewesen bin. Als sie die Tür öffneten, war der Gestank unerträglich. Alle mussten sich übergeben, auch der Pastor. Und als sie dann entdeckten, wie der Leichnam zugerichtet war, wurde es nicht besser. Einer der jüngeren Polizisten, ein Neuer, hat nach diesem Vorfall seine Entlassung eingereicht. Mossa hat Miranda zur offiziellen Identifizierung ins Leichenschauhaus begleitet, denn Elvira hat keine Familie. Man hatte ihr die Wangen wieder zugenäht, und alles andere mit einem weißen Tuch zugedeckt. Miranda brach in Mossas Armen in Tränen aus.
    Johnny hieß weder Klein noch Belmonte oder Garnier, sondern Noel Simon, geboren am 25. Dezember 1963 in Lille. Seine Kindheit hat er im Waisenhaus verbracht. Die Namen, die er für seine wechselnden Identitäten wählte, stammten vom Personal des Heims, in dem er groß geworden war. Man verdächtigt ihn, in ganz Frankreich gut ein Dutzend Morde verübt zu haben. Es handelt sich um bisher nicht aufgeklärte Prostituiertenmorde.
    Bevor er ging, hat Mossa seine dunkle Hand auf meine weiße Bettdecke gelegt und gesagt:
    »Ich hoffe, Bo, dass jetzt mit dem Unsinn Schluss ist.«
    Ich habe »Na klar« gesagt und gelächelt. Mossa hat auch gelächelt und mir zum Abschied eine Schachtel Pralinen geschenkt. Als er weg war, meinte mein Bettnachbar:
    »Ihr Freund, der Neger, scheint sehr nett zu sein.«
    Ich habe ihm keine Praline angeboten.
    Linda ist gekommen, ohne Laszlo. Er kann Krankenhäuser und den Anblick von Kranken nicht ertragen. Sie hat mir Konfekt mitgebracht und den neuesten Klatsch aus dem Viertel erzählt. Unter anderem, dass Bulls Eltern, Postbeamte im Ruhestand, nach der Beerdigung sein Appartement leer geräumt haben und auf ein Glas in der Kneipe vorbeigekommen sind. Elvira hat sie nicht erwähnt. Auch Johnny nicht. Sie hat mir immer wieder die Schulter gedrückt und gesagt, dass sie nach vierzig Jahren zum ersten Mal wieder in einer Synagoge war und dass der Posten als Tellerwäscher immer noch frei ist. Und sie hat ein paar Tränen vergossen.
    »Mach dir keine Sorgen«, habe ich ihr gesagt, »es wird schon.«
    Als sie gegangen war, hat mich mein Bettnachbar gefragt, ob ich etwa aus religiösen Gründen meinen Schinken mittags nicht gegessen habe.
    Diana und Stephanie haben mich auch besucht. Sie waren völlig verschüchtert. Diana hat mir einen Strauß Rosen mitgebracht, und Stephanie hat mir einen Walkman geschenkt. Wir haben uns umarmt und geküsst und kleine Freudenschreie ausgestoßen. Mein Bettnachbar hat die Augen verdreht und den Fernseher lauter gestellt. Mit leiser Stimme haben wir von Elvira gesprochen.
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