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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz
Autoren: Federica de Cesco
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nachdem uns, ein paar Minuten zuvor, die Todesangst überwältigt hatte. Sie war noch nicht gebannt, diese Angst, sie hing über uns wie ein dunkler Schatten, doch jede unserer Bewegungen zog das Leben enger in uns hinein, bis es durch unsere Adern strömte wie das Blut. Auf dem Boden, der jetzt wieder ruhig und fest war, schüttelte uns die Raserei, brachte uns an den Rand der Bewußtlosigkeit. Dann lagen wir still, nach Luft ringend, mit klammer Haut. Neben dem Auf und Ab unserer Atemzüge, dem Klopfen unserer Herzen, hörten wir nur die Seufzer aus unseren Lungen. Ganz allmählich verklang das Brausen in uns. Durch das offene Fenster drangen Geräusche von draußen an unsere Wahrnehmung. Wir tauschten einen Blick, bevor wir uns taumelnd aufrichteten und nach unseren Kleidern griffen. Ein kalter Luftzug strömte durch die Tür.
    Kunio schloß sie. Erleichtert stellte er fest, daß sie in den Rahmen paßte. Immer noch zitternd, mit weichen Knien gingen wir zum Fenster und spähten nach draußen. Es gab nicht viel zu sehen: Menschen standen vor den Hauseingängen und führten erregte Gespräche. Manche waren noch im Morgenrock und schlotterten in der Kälte. Vögel flatterten durch die neblige Luft, schrien von einer Straße zur anderen, setzten sich wip-pend auf kahle Baumkronen. Auf dem Gehsteig lagen Glas-scherben, und an einer Hauswand zeigte sich ein breiter Riß.
    Ein Feuerwehrauto raste mit heulenden Sirenen über die Aus-fallstraße: In der Nähe mußte ein Brand ausgebrochen sein.
    Wir sahen uns an, noch halb benommen.
    »Möchtest du etwas trinken?« fragte Kunio.
    Ich nickte atemlos, fuhr mit der Zunge über meine trockenen Lippen. Kunio öffnete behutsam die Tür des Geschirrschranks.
    Er wollte die umgefallenen Gläser wenigstens vor einem Sturz auf den Fußboden bewahren.
    »Ist viel kaputt?« stammelte ich.
    »Es könnte schlimmer sein.«
    Meine Kopfschmerzen waren verflogen. Doch ich spürte immer noch diese Stumpfheit in mir, eine noch nicht ausgereif-te Unruhe, ein schleichendes Grauen. Die vertraute Warnung, die Beklemmung, sie waren noch da; sie waren sogar stärker geworden. Ich konnte dieses Gefühl nicht erklären; Ausgangspunkt waren die Angst und ihre Nachwirkungen. Teilnahmslos sah ich zu, wie Kunio einige Scherben aufsammelte, die Splitter zusammenfegte und alles in den Mülleimer beförderte.
    Dann holte er eine Colabüchse aus dem Eisschrank, füllte zwei Gläser. Wir tranken beide gierig.
    »Wie lange hat das Beben gedauert?« fragte ich, als ich wieder sprechen konnte.
    »Ungefähr eine Minute, nehme ich an.«
    »Das kann entsetzlich lang sein.«
    »Ja.«
    Aus dem Hahn floß Wasser, kaltes und warmes; weder die Gas- noch die Stromversorgung waren unterbrochen.
    »So schlimm habe ich es selten erlebt«, sagte Kunio. »Ich dachte, das Beben hätte größeren Schaden angerichtet. Ich rufe Hanako an. Hoffentlich ist in Miwa nichts passiert.«
    Während er die Nummer wählte, ging ich ins Badezimmer.
    Ich putzte mir die Zähne, wusch mir das Gesicht. Beim Ab-trocknen blinzelte ich ein paarmal, als ob ich so den Schrecken aus meinen Augen vertreiben könnte. Meine Lippen waren ebenso ausgedörrt wie das Innere meines Mundes. Gerade tupfte ich etwas Hautcreme auf meine Wangen, als ich Kunio im Wohnzimmer sprechen hörte. Seine Stimme klang erregt, anders als sonst. Mein Rückgrat kribbelte. Nichts war vorbei.
    Die Gefahr lag noch in der Luft, unüberhörbar, ausgeprägt. Ich kam ins Zimmer zurück, sah, wie Kunio den Hörer auflegte.
    Sein Gesicht war kreideweiß.
    »Hanako geht es gut«, sagte er. »Das Erdbeben war in Kobe.
    Die Stadt ist zerstört.«
    Ich starrte ihn an, als hätte ich kein Wort begriffen. Kunio schaltete den Fernseher an. Der Bildschirm zitterte und flackerte ein paarmal, dann wurde das Bild klar. Eben wurden Nachrichten gesendet. Die Moderatorin sprach mit ernstem Gesicht; das Erdbeben war das schwerste seit fünfundsiebzig Jahren gewesen. Niemand hatte gewarnt, nicht einmal eine Minute vorher. Der Erdbebenherd befand sich im Meer, nur ein paar Kilometer vom Festland entfernt, in der Bucht von Kobe.
    Schiffe waren gekentert, der Hafendamm zerstört, die Betonpfeiler der Autobahn eingeknickt. Die geplatzten Gasleitungen hatten riesige Flächenbrände verursacht, ganze Viertel standen in Flammen. Während die Frau sprach, flimmerten die ersten Aufnahmen über den Bildschirm: Private TV-Sender hatten Hubschrauber eingesetzt, die im Tiefflug über der Stadt kreisten; riesige
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