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Seidenfpade

Titel: Seidenfpade
Autoren: Ann Maxwell
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sie rasch in einen kleinen Laden, gleich neben dem Jokhang Tempel, in dessen Dunkel sie so lange ausharrte, wie sie es für nötig hielt.
    Als sie sich hinauswagte, war der große bärtige Fremde weg. An seiner Stelle stand nun ein anderer großer Unbekannter.
    Der zweite Mann war ebenso ein Riese wie der erste. Man konnte die beiden jedoch leicht auseinanderhalten, denn der zweite hatte im Vergleich zum ersten eine sehr helle Haut. Er trug keinen Bart. Sein feines, weißblondes Haar hing ihm beinahe auf die Schultern, und er besaß ausgeprägte Wangenknochen samt hellblauen Augen. Dani hielt ihn für einen Skandinavier. Aus irgendeinem Grund wünschte sie sich auf einmal, der erste Mann wäre wieder da. Instinktiv zog sie ihn seinem blonden Partner vor.
    Der »Skandinavier« wußte genau, wie man untertauchte. Er verschwand mühelos in einer der unvermeidlichen holländischen Touristengruppen, die sich laut schwatzend vor dem Haupteingang des Tempels versammelten. Als Dani den Pilgerweg einschlug, der um den Tempel herumführte, folgte ihr der Blonde. Möglicherweise überwachten die beiden sie schichtweise.
    Dann erblickte sie in der Menge die Daunenfelljacke des dunklen Fremden. Er hatte sein schwarzes Haar unter einer tibetischen Fellmütze versteckt und lehnte mit der tief in die Augen gezogenen Kappe an einer Wand auf der anderen Marktseite. Es schien, als würde er dösen.
    Beim nächsten Umsehen hatte sich der Amerikaner wiederum in Luft aufgelöst.
    Seine Abwesenheit beunruhigte sie beinahe noch mehr. Immer wenn sie seinen blonden, blauäugigen Kumpan erblickte, ertappte sie sich dabei, wie sie erneut nach dem ersten Mann Ausschau hielt.
    Als sie sein wind- und sonnengegerbtes Gesicht jedoch nicht mehr erblickte, wurde ihr also zunehmend unbehaglich. Halb erwartete sie, aus einer dunklen Gasse von ihm angesprungen zu werden.
    Dani mißtraute großen Männern, diesen rohen, brutalen Kerlen, ob es ihnen nun bewußt war oder nicht.
    Sie selbst konnte man nicht direkt als klein bezeichnen. Mit einem Meter achtundsechzig und einem gut durchtrainierten Körper von fünfundfünzig Kilo lag sie nur leicht unter der Durchschnittsgröße ihrer Geschlechtsgenossinnen. Aber das Leben -und ihr Ehemaliger hatten sie gelehrt, daß nur das persönliche Ehrgefühl eines Mannes die körperliche Unversehrtheit einer Frau garantierte.
    Eine Menge junger Draufgänger besaßen dieses Ehrgefühl nicht.
    Zitternd nahm Dani Zuflucht in einer Nische. Sie hatte die lange Treppe, die zum Potala Palast hinaufführte, beinahe erreicht. Frierend klappte sie den Kragen ihrer Jacke hoch und verbarg ihre Nase in der dicken Watte, um sich warm zu halten, vor allem jedoch, um ihr westliches Gesicht zu verbergen.
    Dort drängte sie sich an die Wand und sah zu, wie die Sonne langsam hinter den kahlen braunen Bergen der Umgebung von Lhasa verschwand. Die Schatten wurden länger. Die Kälte schnitt durch ihre chinesische Patchworkjacke. Nach sechs Wochen Aufenthalt mehr oder weniger im Freien war sie ziemlich schmutzig, so daß sie ohne weiteres für eine Einheimische durchgehen hätte können, wäre da nicht ihr Gesicht mit den runden Augen gewesen.
    Obwohl der Markt bei Sonnenuntergang zumachte, wimmelte es immer noch überall von Pilgern und Trekkern. Die abgerissenen, ärmlichen Pilger schleppten sich erschöpft voran; viele von ihnen hatten eine sehr weite Reise, meist zu Fuß, hinter sich. Auf ihren Gesichtern lag dennoch Entzücken und Ekstase, waren sie doch endlich dem langersehnten heiligen Zentrum ihres spirituellen Universums nahe.
    Die Trekker, mit ihrer sündteuren westlichen Ausstattung, wirkten zuversichtlich und selbstbewußt, bereit, die Herausforderung der höchsten Berge der Welt anzunehmen. Diejenigen, die gerade von ihrer Tour zurückkamen, trugen einen Ausdruck von Ferne und Hingerissenheit auf den Gesichtern, der dem der Pilger erstaunlich ähnelte.
    Reglos beobachtete Dani, wie ein Trupp chinesischer Sicherheitspolizisten in dunkelgrünen Uniformen über die Straße zur breiten Treppe marschierte, die zum Palast hinaufführte. Die Soldaten patrouillierten mit steifem, wachsamem Schritt vorwärts; denn trotz gegenteiliger Behauptungen von offizieller Seite wußten die Chinesen genau, daß sie sich auf feindlichem Territorium befanden.
    Mehr als vierzig Jahre waren vergangen, seit die Volksrepublik China das Bergkönigreich Tibet annektiert hatte. Seit jener Zeit versuchte die Kommunistische Partei, den Geist und den Willen
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