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Seidenfpade

Titel: Seidenfpade
Autoren: Ann Maxwell
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der Einheimischen auf mehr oder weniger offene oder verhüllte Weise zu brechen.
    Die Ausübung tibetischer Bräuche, von denen die meisten in der uralten religiösen Tradition des Landes wurzelten, war verboten worden. Buddhistische Priester und Mönche wurden verfolgt und gedemütigt. Tibets Regierung bestand aus chinatreuen Vasallen.
    Tausende ethnischer Chinesen waren in das rauhe Bergland eingewandert. Dies geschah auf Betreiben des mächtigen Nachbarn, der das tibetische Volk in seinem eigenen Land zu entmachten und zu entmündigen trachtete. China dominierte das zivile und kommerzielle Leben in Lhasa vollkommen.
    Aber Dani hatte das Leben der tibetischen Bauern auf dem Lande geteilt, die noch in ihren traditionellen Zelten auf den öden Hochebenen hausten. Dort bildete der Buddhismus weiterhin das Rückgrat, ja, das Blut und den Atem der Menschen. Sie lebten in dem Bewußtsein, daß ihre Götter jeden Augenblick, jede Handlung, auch die Gedanken bestimmten.
    Selbst in den Städten gab es Feindseligkeiten zwischen den unbeugsamen, tiefreligiösen Tibetern und den atheistischen Kommunisten von jenseits der Grenze. In den letzten fünf Jahren war es immer häufiger zu offenen Revolten gekommen.
    Doch auch wenn die überlegene Gelbe Armee die Proteste meist im Keim erstickte, gab es dennoch Winkel in Lhasa, die die chinesische Sicherheitspolizei nur in Truppenstärke aufsuchte. An manche Orte wiederum wagte sie sich überhaupt nicht.
    Denn, wie viele Jahre die chinesische Herrschaft nun schon andauern mochte, wie viele Versprechen in bezug auf Wohlstand, Kommunismus und Brüderlichkeit bereits gemacht wurden - in den Augen der meisten Tibeter war China nach wie vor eine Besatzungsmacht.
    Zehn Minuten lang harrte Dani am Rande des Territoriums aus, das für die Chinesen immer noch Niemandsland bedeutete. Sie kniff die Augen vor dem beißenden Wind zusammen und spähte in alle Richtungen.
    Die beiden Fremden waren nirgends zu sehen. Und auch sonst niemand, der aussah wie ein Agent des Sicherheitsdienstes in Zivil.
    Schließlich trat Dani in ihre ungewisse Zukunft hinaus.
    Die weißen Flügel des Sandsteingebäudes mit dem »roten Palast« in der Mitte - einst Residenz des Dalai-Lama - erhoben sich dreizehn Stockwerke über ihr. Die chinesische Armee hatte den Heiligsten aller Tibeter ins Exil getrieben und seinen Palast in ein Museum für neugierige westliche Touristen verwandelt.
    Nicht, daß es, abgesehen von dem Gebäude selbst, noch allzuviel zu bestaunen gab. Die wertvollsten sakralen Kunstgegenstände waren längst »zur Aufbewahrung« nach Peking abtransportiert worden.
    Doch nichts, was die Chinesen unternahmen, konnte die Verwurzelung der Tibeter in ihrem Glauben lösen. Sie lockern ja, aber nicht ausreißen.
    Andernfalls wäre Dani kaum allein und frierend hier draußen gestanden, um ein äußerst ehrwürdiges Stück tibetischer Vergangenheit zu erwerben.
    Jetzt oder nie, sagte sich Dani erneut. Wenn die Seide nicht richtig behandelt wird, ist sie für immer verloren. Nun mach schon, beweg dich!
    Sie trat aus dem kalten Schatten der Nische und ging auf den heiligen Palast zu. Eine lange, breite Steintreppe führte hinauf. Aber sie blieb am Fuß der Treppe stehen.
    Eine Gruppe von Mönchen in orangeroten Kutten, in die sie sich wegen des kalten Winds eng eingewickelt hatten, kam ihr entgegen. Einer von ihnen erblickte die junge, dunkelhaarige Frau und sagte etwas auf tibetisch.
    Dani verstand, daß er meinte, der Palast und die Ausstellungsräume wären inzwischen geschlossen. Sie nickte ergeben und wartete weiter.
    Die Mönche schritten auf die Innenstadt zu.
    Fünf Minuten lang stand sie allein am Fuß der langen Treppe. Es wurde immer dunkler. Aus einer naheliegenden Gasse hörte sie das Rascheln einer Ratte. Irgendwo heulte ein Hund. Sie erschrak.
    Dani stampfte mit den Füßen. Die Steinstufen waren kalt, obwohl sie einen ganzen Tag Sonnenschein gespeichert hatten. In dieser Höhe war die Wärme der Sonne ebenso spärlich wie der Sauerstoff.
    Während Dani sich in Geduld übte, nahm die ehemalige Residenz des Dalai-Lama in der Dämmerung einen fast unheimlichen Glanz an. Uralt und dennoch zeitlos, solide und dennoch transparent, erhob sich das heilige Bauwerk über dem Land und schimmerte im Licht des kalten Sonnenuntergangs.
    Einen Augenblick lang kam Dani sich winzig und verloren vor, überwältigt von dem tausendjährigen Ort, an dem unzählige Menschen ihre Gebete gen Himmel geschickt hatten und
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