Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Seidenfächer

Titel: Seidenfächer
Autoren: L See
Vom Netzwerk:
dann einatmen, ausatmen und nichts. Die ganze Zeit über hatte ich die Hand auf Schneeroses Wange gelegt, wie sie es unser ganzes gemeinsames Leben bei mir gemacht hatte. Sie sollte wissen, dass ihre laotong da war bis zum letzten Einatmen, Ausatmen, und dann folgte endgültig nichts mehr.
     
    Vieles von dem, was passiert war, erinnerte mich an das Lehrstück über das Mädchen mit den drei Brüdern, das Tante uns
immer vorgesungen hatte. Jetzt begreife ich, dass wir diese Lieder und Geschichten nicht nur lernten, damit wir wussten, wie man sich benahm, sondern weil wir unser ganzes Leben lang immer wieder Variationen davon durchlebten.
    Schneerose wurde hinunter in den Hauptraum gebracht. Ich wusch sie und kleidete sie in ihre Gewänder für die Ewigkeit – sie waren alle zerschlissen und ausgebleicht, aber es waren die Muster, die ich noch aus unserer Kindheit in Erinnerung hatte. Die älteste Schwurschwester kämmte Schneerose die Haare. Die mittlere Schwurschwester puderte Schneerose das Gesicht und malte ihr die Lippen an. Die jüngste Schwurschwester schmückte ihre Haare mit Blumen. Schneerose wurde in einen Sarg gelegt. Eine kleine Kapelle kam und spielte Trauermusik, während wir im Hauptraum neben ihr saßen. Die älteste Schwurschwester hatte genug Geld, um Räucherwerk zum Verbrennen zu kaufen. Die mittlere Schwurschwester hatte genug Geld, um Papier zum Verbrennen zu kaufen. Die jüngste Schwurschwester hatte weder Geld für Räucherwerk noch für Papier, dafür weinte sie ordentlich.
    Drei Tage später trugen der Metzger und sein Sohn mit den Ehemännern und Söhnen der Schwurschwestern den Sarg zur Grabstätte. Sie gingen sehr schnell, fast als würden sie über den Boden fliegen. Ich nahm fast alle Nushu-Schriften von Schneerose mit, auch vieles von dem, was ich ihr geschickt hatte, und verbrannte es, damit sie unsere Worte im Jenseits bei sich hatte.
    Wir kehrten in das Haus des Metzgers zurück. Frühlingsmond machte Tee, während die Schwurschwestern und ich nach oben gingen, um alle Spuren des Todes zu entfernen.
    Sie waren es, durch die ich von meiner größten Schande erfuhr. Sie erzählten mir, dass Schneerose gar nicht ihre Schwurschwester war. Ich glaubte es nicht. Sie versuchten, mich anders davon zu überzeugen.

    »Aber der Fächer!«, rief ich frustriert. »Sie hat doch geschrieben, dass sie Euch beitreten will.«
    »Nein«, korrigierte mich Lotos. »Sie hat geschrieben, dass sie nicht mehr will, dass Ihr Euch Sorgen um sie macht, und dass sie hier Freundinnen hat, die sie trösten.«
    Sie fragten, ob sie sich den Text selbst ansehen dürften. Ich erfuhr, dass Schneerose diesen Frauen beigebracht hatte, Nushu zu lesen. Nun hockten sie über dem Fächer wie eine Schar Hühner und deuteten gackernd auf die ganzen anderen Ereignisse, von denen Schneerose ihnen in all den Jahren erzählt hatte. Doch als sie beim letzten Eintrag angelangt waren, wurden sie wieder ernst.
    »Seht«, sagte Lotos und deutete auf die Zeichen. »Hier steht nichts davon, dass sie unsere Schwurschwester wird.«
    Ich schnappte mir den Fächer und nahm ihn mit in eine Ecke, wo ich ihn mir selbst genau ansehen konnte. Ich habe zu viele Sorgen , hatte Schneerose geschrieben. Ich kann nicht das sein, was du dir von mir wünschst. Du musst meine Klagen nun nicht mehr anhören. Drei Schwurschwestern haben versprochen, mich so zu lieben, wie ich bin ...
    »Seht Ihr, Dame Lu«, sagte Lotos von gegenüber. »Schneerose wollte, dass wir ihr zuhören. Im Gegenzug hat sie uns die Geheimschrift beigebracht. Sie war unsere Lehrerin, und dafür haben wir sie geachtet und geliebt. Aber geliebt hat sie nicht uns, sondern Euch. Sie wollte, dass diese Liebe erwidert wird, ohne durch Euer Mitleid und Eure Ungeduld belastet zu sein.«
    Dass ich oberflächlich, stur und egoistisch gewesen war, änderte nichts an der Tragweite und der Dummheit dessen, was ich getan hatte. Ich hatte den größten Fehler begangen, den eine Frau, die Nushu beherrscht, begehen kann: Ich hatte die Struktur, den Kontext und die Bedeutungsnuancen außer Acht gelassen. Mehr noch, mein Glaube an meine eigene Wichtigkeit
hatte mich vergessen lassen, was ich an dem Tag gelernt hatte, an dem ich Schneerose zum ersten Mal getroffen hatte: Ihre Wortwahl war immer weit subtiler und kultivierter gewesen als die der zweiten Tochter eines gewöhnlichen Bauern. Acht Jahre lang hatte Schneerose wegen meiner Blindheit und Ignoranz gelitten. Den Rest meines Lebens – und das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher