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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer
Autoren: L See
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draußen unter der Sonne arbeitet oder sein ganzes Leben geschützt im Frauengemach sitzt. Meine Haut ist so dünn, dass sich unter der Oberfläche Blut sammelt, wenn ich an etwas stoße oder etwas mich anstößt. Meine Hände sind müde vom Tuschereiben, meine Knöchel geschwollen vom Halten des Pinsels. Zwei Fliegen sitzen auf meinem Daumen, aber ich bin zu träge, um sie wegzuscheuchen. Meine Augen – die wässrigen Augen einer sehr alten Dame – haben in den letzten Tagen allzu sehr getränt. Meine Haare – grau und dünn – sind aus den Nadeln gerutscht, die sie unter meinem Kopftuch festhalten sollten. Wenn Besucher kommen, sehen sie tunlichst nicht zu mir her. Ich bemühe mich auch, sie nicht anzusehen. Ich habe zu lange gelebt.
    Nach Schneeroses Tod hatte ich noch mein halbes Leben vor mir. Meine Reis-und-Salz-Tage waren noch nicht vorüber, aber innerlich begann ich schon die Jahre des Stillsitzens. Für die meisten Frauen fängt diese Zeit mit dem Tod ihres Ehemanns an. Für mich begann sie mit dem Tod von Schneerose. Ich war »die, die noch nicht gestorben ist«, aber ich konnte mich noch nicht ganz zur Ruhe setzen. Mein Mann und meine Familie brauchten mich als Ehefrau und Mutter. Meine Dorfgemeinschaft brauchte mich als Dame Lu. Und dann gab es da noch Schneeroses Kinder, die ich wiederum brauchte – damit ich an
meiner laotong Wiedergutmachung leisten konnte. Aber es ist schwer, wirklich großzügig und freimütig zu sein, wenn man nicht weiß, wie.
    In den Monaten unmittelbar nach Schneeroses Tod übernahm ich zuallererst ihre Rolle bei sämtlichen Hochzeitsbräuchen und -zeremonien ihrer Tochter. Frühlingsmond schien sich der Aussicht auf die Ehe gefügt zu haben. Sie wirkte traurig, weil sie von zu Hause wegmusste, und sie schien unsicher, was ihr wohl bevorstand – nachdem sie gesehen hatte, wie ihr Vater ihre Mutter behandelte. Ich sagte mir, dass sich alle Mädchen solche Sorgen machten. Doch nachdem ihr frisch gebackener Ehemann eingeschlafen war, beging Frühlingsmond in ihrer Hochzeitsnacht Selbstmord, indem sie sich in den Dorfbrunnen stürzte.
    »Dieses Mädchen hat nicht nur ihre neue Familie beschmutzt, sondern auch das Trinkwasser des ganzen Dorfs«, wurde geklatscht. »Sie war genau wie ihre Mutter. Denkt nur an diese Schmährede...« Dass ich diejenige war, die diese Schmährede verfasst hatte, mit der Schneeroses Ruf ruiniert worden war, kratzte an meinem Gewissen, deshalb ließ ich solches Gerede gar nicht erst aufkommen. Durch meine Worte wurde ich bekannt als jemand, der den Unreinen verzeiht und ihnen Gutes tut, doch schon bei meinem ersten Versuch, mit Schneerose alles wieder einzurenken, hatte ich kläglich versagt. Der Tag, an dem ich den Tod des Mädchens in den Fächer schrieb, war einer der schlimmsten in meinem Leben.
    Dann konzentrierte ich meine Bemühungen auf Schneeroses Sohn. Trotz der ärmlichen Verhältnisse und ohne Unterstützung durch seinen Vater hatte er ein wenig von der Männerschrift gelernt und konnte gut mit Zahlen umgehen. Ich lernte seine Frau kennen, die noch bei ihren Eltern wohnte. Diesmal war eine gute Wahl getroffen worden. Das Mädchen wurde schwanger, doch bei dem Gedanken, dass sie bei dem Metzger
einziehen würde, war mir nicht wohl. Auch wenn es nicht meine Art ist, mich in den äußeren Bereich der Männer einzumischen, brachte ich meinen Mann dazu, eine andere Tätigkeit für diesen jungen Mann zu suchen, als Schweine zu schlachten. Mein Mann hatte nicht nur den gewaltigen Besitz von Onkel Lu geerbt, sondern mit seinen Gewinnen durch den Salzhandel auch noch Land dazukaufen könne. Nun erstreckten sich seine Felder bis Jintian. Er stellte Schneeroses Sohn an, um die Pacht von den Bauern einzutreiben, und ließ ihn in einem Haus mit eigenem Gemüsegarten wohnen. Der Metzger setzte sich schließlich zur Ruhe, zog bei seinem Sohn ein und begann seinen Enkelsohn zu verhätscheln, der große Freude in dieses Haus brachte. Der junge Mann und seine Familie waren glücklich, aber ich wusste, dass ich noch nicht genug getan hatte, um meine Schuld bei Schneerose wiedergutzumachen.
     
    Als mit fünfzig Jahren meine Monatsblutung aufhörte, änderte sich mein Leben von neuem. Nun musste ich nicht mehr anderen zu Diensten sein, sondern andere mussten mir aufwarten, obwohl ich natürlich genau aufpasste, was sie machten, und sie korrigierte, wann immer etwas nicht zu meiner Zufriedenheit ausgeführt wurde. Doch wie gesagt, innerlich hatte ich das
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