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Sei mein Moerder

Sei mein Moerder

Titel: Sei mein Moerder
Autoren: Volker Ferkau
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vielleicht begegnet? Warum hatte er niemanden gesehen? Oder war da jemand gewesen, der durch sein Wahrnehmungsraster gefallen war? Hatte er sich zu sehr auf einen großen, starken Mann konzentriert?
    Es war zum Verrückt werden.
    So saß er auf der Couch und starrte die Rosenschere an. Klein, handlich, mit leicht abgerundeten breiten Schneiden, die spitz zuliefen. Sehr effektiv, wenn es darum ging, auch große Äste zu durchtrennen.
    Er sprang auf, rannte mehr, als er ging, in die Küche, als wolle er ein letztes Mal empfinden, wie es sich mit zehn Zehen lief, öffnete die Küchenschublade, zerrte mehrere Einkaufstüten aus Plastik heraus, sowie eine Schere. Er schnitt die Tüten auseinander, ging zurück ins Wohnzimmer und legte das schützende Plastik auf den Tisch und den Teppich davor.
    Würde das Blut tropfen oder spritzen?
    Wie viel Zeh forderte der Briefschreiber?
    Er hatte Zeit, viel Zeit. Die ganze Nacht lang hatte er Zeit, belog er sich. Nein, das Gegenteil war der Fall. Wenn er morgen früh, kurz nach Sonnenaufgang seine Joggingstrecke abschreiten wollte, musste er die grausige Verletzung so weit im Griff haben, dass er laufen konnte. Je früher er es tat, desto besser. Er wog die Flasche mit Desinfektionsspray in der Hand. Genau genommen handelte es sich um Sagrotan , das man zur Desinfektion sanitärer Anlagen benutzte. Seine Mutter hatte ihm stets gepredigt, dieses Spray sei genauso wirksam wie teure Mittel aus der Apotheke. Er hoffte, die Frau hatte Recht. Er fand noch ein Päckchen Antibiotika, die zwar abgelaufen waren, aber das störte ich  nicht.
    Er seufzte, wischte Schweiß aus seinem Gesicht und zog die Hose aus. Nur in Unterhose hob er den linken Fuß auf die Tischkante. Er betrachtete seine Zehen. Er hatte sie nie gemocht, wohingegen Gabi gesagt hatte, nachdem sie nach der ersten gemeinsamen Nacht neben ihm aufgewacht war und seine Füße gesehen habe, wusste sie, er sei der richtige Mann. Sie hatte seine Füße geliebt.
    Auf welche Zehen konnte er verzichten?
    Den großen Zeh und den ganz kleinen wollte er behalten, musste er behalten, denn sie waren wichtig für das Gleichgewicht. Also entschied er sich für den zweiten und dritten von links. Er setzte die Schneide der Rosenschere gegen das mittlere Glied. Das musste genügen. So blieb noch ein Rest, nur ein winziger Rest.
    Er schloss die Augen. Sein Herz pochte wild, auf seinen Armen bildete sich eine Gänsehaut. Die Rosenschere lag gut in der Hand. Sie war scharf, kaum gebraucht. Mit den spitz zulaufenden Schneiden konnte man sehr genau arbeiten, was notwendig war, wollte man Rosenstämme veredeln oder ausdünnen.
    Ein schneller Ruck und es war geschehen. Verdammt, es gab schlimmeres, oder etwa nicht? Die Griffe zudrücken, schnell musste es gehen, ganz schnell.
    Er konnte es nicht!
    Blitze zuckten durch seine Zehen und vor dem Fenster baumelte an einem knirschenden Seil der tote Hund, der ihm die Zunge herauszustrecken schien.
    Feigling!
    Es geht um deine Familie!
    Ich hatte nichts mit dir und deinen Leute zu tun, und bin trotzdem jämmerlich erstickt! Und du machst dir in die Hose wegen zwei dämlicher Zehen?
    »Ja, ich mache mir gleich in die Hose«, stammelte Mark. »Ich weiß, du Scheißköter, ich weiß, dass es nur eine halbe Sekunde dauert. Und ich weiß, dass es nur eine Frage der Überwindu ng ist. Ich bin eben ein Feigling, blöder Köter!«
    Er schluchzte hart.
    War er das? Ein Feigling? Erkannte er es jetzt mit bitterer Gewissheit oder befiel ihn das heulende Elend lediglich, weil er gegen den ganz natürlichen Selbsterhaltungstrieb ankämpfte? Niemand, der seelisch gesund war, verstümmelte sich selbst, schon gar nicht amputierte er sich.
    Bin ich vergeblich gestorben, Mensch?
    Und soll deine Familie sterben?
    Vielleicht deine Tochter? Wird sie die Erste sein?
    »Ich rufe die Polizei. Wir haben Spezialisten für solche Fälle ...«, keuchte Mark.
    Unsinn! Die Kripo griff dann ein, wenn eine Tat begangen war, nicht vorher. Und bis dahin ... bis dahin ...
    Alles war zu schnell gegangen.
    Er war doch gerade erst nach Hause zurückgekehrt. Und in einen Alptraum gestolpert. Er sollte sich ein paar Schnäpse trinken. Sollte nachdenken, nachdenken ...
    Nicht überstürzt handeln.
    Und der Hund lachte. Ein helles quiekendes Pinscherlachen, während er hin- und herschwang, als berühre ihn eine unsichtbare Hand.
    »Halt dein blödes Maul, Hund. Wie sagte meine Mutter immer? Was du heute kannst besorgen ...«
    Er schrie, bevor er es
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