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Sei mein Moerder

Sei mein Moerder

Titel: Sei mein Moerder
Autoren: Volker Ferkau
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tat. Schrie laut und zornig und verzweifelt, dann schloss er seine Finger, und er staunte über die Kraft, die in der Rosenschere lauerte, und er staunte darüber, dass es nicht weh tat.
    Zapp!
    Er war durch die Haut im Fleisch. Dann ging nichts mehr. Ohne nachzudenken, griff Mark nach weit oben, um die Hebelkraft zu erhöhen, und drückte noch einmal zu.
    Die Klingen krachten zusammen, es machte ein schmatzendes Geräusch, und das Gerät fiel aus Marks Händen. Er öffnete die Augen und starrte dorthin, wo zuvor noch ein Zeh gewesen war, jetzt jedoch nur noch ein Knochenstummel mit etwas Haut, aus dem erstaunlich wenig Blut floss. Er hatte Glück gehabt und keine Arterie verletzt.
    Schnell beugte er sich vor, presste Mull auf die Wunde, dann kam der Schmerz. Er ruckte auf der Couch zurück, sein Oberkörper schleuderte gegen die Rückenlehne, er riss den Mund auf und jammerte. Wie ein Kind mit ADHS schnellte er hin und her, die Beine an den Oberkörper gezogen, sollte das Blut hinspritzen wo es wollte, es war unwichtig! Hin und her. Dann fiel sein Blick auf etwas, das vor der Couch lag, etwas abseits, weggesprungen wie ein dickes Gummibärchen, das einem beim Fernsehen aus der Tüte purzelte.
    Sein  Zeh, lieber Gott, sein Zeh mit einem Fußnagel, der längst hätte geschnitten werden sollen.
    Mark registrierte das Blut, das aus dem Stummel tropfte, und erneut presste er den Mull an die Wunde. Er griff mit zitternden Fingern zur Sagrotan-Flasche und spritzte auf die Wunde.
    Der Schmerz war betäubend, war allumfassend, war so feurig grausig, dass er für einen Moment dachte, den Verstand zu verlieren. Doch so schnell es gekommen war, verging das Brennen wieder. Klitschnass verschwitzt und hart keuchend überlegte Mark fieberhaft, wie er die Wunde verbinden sollte, denn er musste dieselbe Prozedur noch einmal bewerkstelligen, wobei ein Verband nur störte.
    Also musste der zweite Zeh schnell ab, damit er beide Reste versorgen konnte.
    In diesem Moment begriff er, dass er es nicht noch einmal tun konnte, nicht noch einmal tun würde .
    Ein verdammter Zeh musste genügen. Das war seine Zustimmungserklärung, und wenn der Briefschreiber ein Herz hatte, würde er es begreifen. Besser eine teilweise Zustimmung, als gar keine. Nein, nicht noch einmal.
    Mark war wie gelähmt. Sein Blick fiel auf die Rosenschere. Er würde sie nie wieder berühren können, würde diese Pein nicht noch einmal aushalten. Er hatte getan, was in seiner Macht lag, war über seinen Schatten gesprungen, hatte Grenzen überwunden. Das musste dem Briefschreiber genügen.
    Bitte, lass es ihn begreifen!
    Wie in Trance verband er die Wunde, die zu pochen begann, als wolle der Fuß in Stücke reißen.
    »Scheiße!«, brüllte er verzweifelt.
    Er hatte das Pflaster vergessen, wusste nun nicht, wie er den Verband fixieren sollte. Er riss den Verband am Ende in zwei Streifen und verknotete sie. Das war nicht schön, aber es hielt.
    Fast verblüfft, als beobachte er einen Fremden bei einer verstörenden Verrichtung, betrachtete Mark seinen Fuß. Er erinnerte sich, noch eine Packung Paracetamol im Hause zu haben. Er würde sich mit Tabletten versorgen, eine Handvoll, wenn es sein musste. Die Hauptsache war, der Schmerz wurde erträglich. Sarkastisch registrierte er, dass nicht der Schmerz die Qual ausmachte, sondern seine Ohnmacht.
    Er, ein Mann, der bisher gemeint hatte, die Fäden seines Lebens zu verknüpfen, wie es ihm beliebte, hatte innerhalb einer Stunde seinen Fokus verloren und war zum Spielball eines Briefschreibers geworden.
    Und er hoffte, mit einem Kompromiss durchzukommen.
    So, wie es sein ganzes Leben lang gewesen war.
     
     
    Nach einer Nacht voller Alpträume, Schmerzmitteln, einem Antibiotikum und Cognac taumelte Mark am nächsten Morgen aus dem Haus, wobei sein verletzter Fuß in einem Crocs steckte, einer weiten Plastiksandale. Er wusste, welche Parkbank und welcher Mülleimer gemeint waren, und entsorgte seinen Zeh, warf ihn weg wie ein faulendes Stück Fleisch, was es nun auch war. Ein Stück Mark Rieger.
     

5
     
    Justizvollzugsanstalt Berlin Moabit, Ebene 3, Raum 214.
    Zwei Männer, gegenüber an einem Tisch. Neonbeleuchtung, eine Stahltür, eine Gittertür, keine Fenster.
    »Was empfanden Sie, als Sie die Frau erstachen?«
    »Was soll diese Frage, Doktor Rieger? Außerdem habe ich sie nicht erstochen, sondern zerschnitten. Wir sollten bei der Wahrheit bleiben.«
    »Was empfanden Sie damals, vor zehn Monaten? Welches Gefühl nahmen
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