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Seelentraeume

Seelentraeume

Titel: Seelentraeume
Autoren: Ilona Andrews
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waren außerhalb ihrer Welt unterwegs gewesen, hatte der Mann gesagt, an einem Ort, an dem die Magie nur schwach ausgeprägt war. Er nannte diesen Ort ›das Edge‹. Aber der Mann war nicht bei Verstand gewesen, und sie hätte ihm keinen Glauben geschenkt, wenn sie nicht jene unsichtbare Mauer gespürt hätte, die sich wie eine Barriere aus komprimierter Magie erhob.
    Im Edge, einem Ort mit schwacher Magie, war vielleicht auch der Sog des dunklen Zaubers nicht so stark und würde nicht so viel Schaden anrichten, wenn er die Oberhand gewann.
    Aber die eigentliche Frage lautete: Würde sie diesen Ort finden?
    Éléonore Drayton lehnte sich in ihrem Schaukelstuhl zurück und nippte an dem Eistee in dem wie eine Narzisse geformten großen Glas. Die Frühlingssonne wärmte die Veranda. Éléonore lächelte behaglich eingemummt in die zahlreichen Schichten ihrer abgewetzten Kleider. In letzter Zeit hatte sie jedes ihrer hundertneun Lebensjahre einzeln gespürt, aber die Hitze fühlte sich wunderbar an.
    Jenseits der Wiese verlor sich eine Straße in der Ferne, auf der anderen Seite wuchsen die Wälder des Edge, dicht, von Magie gespeist. Die Luft duftete nach frischem Laub und Frühjahrsblumen.
    Neben ihr hob Melanie Dove, ihres Zeichens auch kein so junges Gemüse mehr, ihr Glas ans Licht und betrachtete es blinzelnd. Die Sonne erfasste einen darin wirbelnden dünnen Goldfaden. »Hübsche Gläser. Aus dem Weird?«
    »Mhm, der Tee wird darin magisch gekühlt.« Die Gläser funktionierten sogar hier im Edge, wo die Magie nicht so mächtig war. Irgendwann schmolz das Eis, anders als die mitgelieferte Bedienungsanleitung versprochen hatte, dann doch, aber gute fünf bis sechs Stunden blieben die Getränke kühl, und, mal ehrlich, wer brauchte schon fünf Stunden für ein Glas Eistee?
    »Haben deine Enkel die für dich besorgt?«
    Éléonore nickte. Ein Sonderkurier hatte die Gläser direkt aus Adrianglia gebracht, das bislang letzte einer wahren Geschenkeflut. Der Karton hatte das Siegel von Earl Camarine getragen. Rose, das älteste ihrer Enkelkinder, hatte sie ausgesucht und eine nette Nachricht dazugelegt.
    »Wann wirst du dorthin umziehen?«
    Éléonore hob die Augenbrauen. »Willst du mich loswerden?«
    »Bitte.« Die andere Hexe schüttelte ihren grauen Kopf. »Deine Enkelin hat einen stinkreichen Blaublütigen geheiratet, deine Enkel hängen dir seit Monaten in den Ohren, endlich zu ihnen zu ziehen, und du hockst hier herum wie ein Huhn auf dem Misthaufen. Ich wäre an deiner Stelle längst weg.«
    »Sie leben ihr eigenes Leben, ich lebe meines. Was soll ich denn dort? Die Jungs sind den lieben langen Tag in der Schule. George ist jetzt dreizehn, Jack elf, und Rose muss sich um ihre Ehe kümmern. Ich hätte da nicht mal ein eigenes Heim. Hier gehören mir zwei Häuser.«
    »Earl Camarine würde dir schon ein Haus kaufen. Schließlich lebt er auf einer Burg, Weib.«
    »Ich habe noch nie Almosen angenommen und auch nicht vor, jetzt damit anzufangen.«
    »An deiner Stelle würde ich’s tun.«
    »Aber du bist nun mal nicht an meiner Stelle, nicht wahr?«
    Éléonore grinste in ihren Tee. Sie waren nun schon seit fünfzig Jahren Freundinnen, und dieses ganze halbe Jahrhundert lang hatte Melanie aller Welt erklärt, was er oder sie mit ihrem Leben anstellen sollten. Und mit dem Alter wurde sie noch unverschämter, wobei sie, um der Wahrheit die Ehre zu geben, noch nie besonders feinfühlig war.
    In Wahrheit vermisste sie Rose, George und Jack, ihre Enkelkinder, so sehr, dass ihr manchmal das Herz wehtat, wenn sie an sie dachte. Aber sie gehörte nicht ins Weird, dachte Éléonore. Sie hatte sie besucht und würde es wahrscheinlich wieder tun, aber zu Hause fühlte sie sich dort nicht. Die Magie war dort stärker, und vermutlich würde sie dort länger leben, doch hier im Edge, einem Ort zwischen dem Weird mit seiner ganzen Magie und dem Broken, wo es gar keine Zauberei gab, lag ihre wahre Heimat. Sie war eine Drayton und durch und durch Edger. Sie kannte sich in dieser Kleinstadt aus, sie kannte ihre sämtlichen Nachbarn, ihre Kinder und Enkelkinder. Und sie besaß ihre eigene Macht. Genoss einen gewissen Respekt. Wenn sie jemanden zu verfluchen drohte, wurden die Menschen hier aufmerksam und hörten ihr zu. Im Weird dagegen würde sie Rose nur zur Last fallen.
    Es ist nicht zu vermeiden, sagte sie sich, Kinder verlassen ihr Nest nun mal. Alles ist, wie es sein soll.
    Ein Laster rumpelte an ihrem Hof vorüber. Am Steuer
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