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Seelensunde

Seelensunde

Titel: Seelensunde
Autoren: Silver Eve
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noch nach einem Anlegen. Das klingt eher wie ein Befehl, würde ich sagen.“
    Alastor merkte, dass er in der Wahl seines Tons vorsichtiger sein musste. „Ich bitte aufrichtig um Entschuldigung. Meine Bitte ist, ob du mir sagen kannst, ob sie heil angekommen ist.“
    „Sie ist es.“ Izanami erhob sich und trat an den Tisch. Dort nahm sie ihm gegenüber Platz. Sie bewegte sich mit einer unglaublichen Grazie, und der feine Stoff ihres Gewands umwehte sie dabei in einem langsamen Wogen, wie man es sonst nur unter Wasser sieht. In Alastor regte sich der Verdacht, dass all das, was er sah, nichts waren als Sinnestäuschungen, Bilder, die sie ihm vorgaukelte, weil sie wollte, dass er sie so sah. Vielleicht auch, weil es dem entsprach, was er erwartete.
    „Warum hast du sie gerettet und nicht dich selbst?“
    Er starrte einige Augenblicke in ihre Richtung und wusste nicht, was er antworten sollte. Dann meinte er: „Weil sie mir die Wichtigere ist von uns beiden.“
    „Du schätzt ihren Wert tatsächlich höher ein als deinen eigenen? Ist sie dir auch mehr wert als dein Wunsch, von Butchers Schwarzer Seele zu erfahren, wer der Mörder deines Bruders ist?“
    Alastor zuckte die Schultern. „Sieht so aus.“ Im Hinterkopf hatte er, dass er sich in Ruhe nach Butchers Seele umsehen konnte, da er nun einmal für längere Zeit in Izanamis Reich bleiben musste. Sollte er sie aufstöbern und wirklich etwas erfahren, würde er immer noch Mittel und Wege finden, sein Wissen an seine Brüder weiterzugeben. Was aber im Grunde den Ausschlag gab, war etwas anderes. Als er vor der Wahl gestanden hatte, hatte er gar keine zwei Möglichkeiten gesehen. Er hätte für Naphré alles geopfert, selbst seine Rache an Lokans Mörder – sogar sich selbst.
    „Du weichst mir aus, Alastor Krayl. Du willst Antworten,bist jedoch selbst äußerst zurückhaltend mit deinen.“
    Er rieb sich das unrasierte Kinn und dachte für einen Moment daran, wie verwahrlost er aussehen musste. „Gut. Stell deine Fragen.“
    „Nein. Ich möchte dir lieber eine Geschichte erzählen, und du wirst mir zuhören.“
    Ausgezeichnet. Er hatte ja Zeit.
    „Es ist die Geschichte von einem Jungen. Eines Tages fängt er eine Schildkröte und bringt sie nach Hause. Über Nacht verwandelt sich die Schildkröte in eine Frau. Sie winkt den Jungen zu sich heran und bittet ihn, mit ihr zu kommen, um am Meer mit ihr zusammenzuleben. Drei Jahre verbringen sie so gemeinsam. Dann überkommt den Jungen das Heimweh, er sehnt sich nach seinem Heimatdorf. Deshalb bittet er sie darum, zurückkehren zu dürfen. Sie entspricht seiner Bitte und gibt ihm noch eine Schatulle als Geschenk mit, allerdings unter der Bedingung, dass er sie unter keinen Umständen öffnen dürfe, weil er sonst niemals zu ihr zurückkommen könne. Der Junge geht in sein Dorf zurück. Was er aber vorfindet, ist nicht mehr sein Dorf. Die Zeit ist ein launisches Ding. Nicht drei Jahre, sondern Jahrhunderte sind vergangen, und alles, was ihm vertraut gewesen ist, ist vergangen. Alle, die er gekannt hat, sind längst tot. In seiner Verzweiflung öffnet er die Schatulle – und verfällt im gleichen Augenblick zu Staub.“
    Alastor war aufgesprungen und ging nun unruhig in der Höhle umher. Er fühlte sich eingesperrt und elend. Er hatte gut verstanden, was die Geschichte bedeutete, die Izanami ihm erzählt hatte. Es war – kaum verhüllt – seine eigene Geschichte. Als Sutekh ihn aus seiner heilen Welt geholt hatte, hatte er noch nicht ahnen können, dass er niemals dorthin wieder zurückkehren konnte.
    „Warum erzählst du mir das?“, fragte er mit belegter Stimme.
    „Der Junge hat seine Heimat verloren – genau wie du. Und als er die Schatulle öffnete, die er nicht hätte öffnen dürfen, hatte er auch noch seine Liebe verloren. Der dumme Junge.“
    „Willst du mir eine Lektion erteilen? Ja, ich habe meine Familie verloren und nicht gewusst, dass die Zeit in Sutekhs Reich anderen Gesetzen folgt als unter den Sterblichen. Nun habe ich auch Naphré verloren, weil ich von der Speise der Toten gegessen habe. Wenn du so willst, bin ich zu Staub verfallen. Es macht kaum einen Unterschied. Habe ich das richtig verstanden?“ Er war böse – böse auf Izanami, böse auf sich selbst. Böse, weil er die Chance verpasst hatte, eine Ewigkeit an der Seite von Naphré zu verbringen.
    Aber hatte er denn überhaupt eine Chance gehabt? Die Alternative wäre gewesen, dass Naphré in diese Hölle verbannt worden wäre, die
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