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Seelensturm

Seelensturm

Titel: Seelensturm
Autoren: Any Cherubim
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reagierte sofort darauf. Ich zog die Decke über meine Schultern und genoss das wohlige Gefühl meiner eigenen Wärme.
    Alles schlief. Es war still im Haus, nur ich war noch wach, drehte mich unruhig zur Seite, strich mein langes, braunes Haar aus meinem Gesicht und lauschte der Stille. Die Geräusche des Tages waren verklungen und würden in ein paar Stunden von Neuem erwachen. Klapperndes Geschirr aus der Küche, der Rasenmäher auf dem Grundstück und die Menschen, die hier lebten und arbeiteten, würden wieder zu hören sein. Doch jetzt war alles stumm, nur die Alarmanlage, die uns bewachte, tat fast unhörbar ihre Arbeit.
    Ich hatte das Gefühl, allein im Raum zu sein und doch sah ich meine Zwillingsschwester in ihrem Bett liegen - auf der anderen Seite des Zimmers. Ihre Decke hatte sie um ihren Körper geschlungen, sie schlief ruhig und fest. Amy liebte es, auszuschlafen, während ich gerne früh aufstand. Erst wenn die Sonne schon die Mittagszeit einläutete, erwachte sie. Ihre Haare waren zerzaust, und sie schien noch eine Weile zu brauchen, bis sie endlich richtig wach wurde. Die übliche Dusche vertrieb ihr die Müdigkeit schlagartig. Bis sie zum Mittagessen erschien, waren die Spuren ihres tiefen Schlummers meist verschwunden. Sie besaß die gleichen großen Augen, die gleiche kleine Nase, den gleichen vollen Mund, wie ich. Ihre Haare hatten genau den gleichen Farbton und auch die Länge war identisch. Erst beim näheren Hinsehen konnte man wenige, feine Unterschiede erkennen. Wir glichen uns, für jeden sichtbar, doch innerlich konnten wir nicht unterschiedlicher sein. Zwillinge von außen, jedoch innen zwei gegensätzliche Pole. Wir waren wie Yin und Yang, Sturm und Sonnenschein, hell und dunkel, sie laut und ich leise.
    Amys grün-graue Augen waren einen Tick dunkler als meine und strahlten mehr. Wir achteten auf unsere Ernährung und waren beide schlank, doch war es ihre Figur, die besser in einem Kleid aussah. An meinen Armen, Beinen und am Bauch konnte man die sanften Linien, die meine Muskeln abzeichneten, erkennen. Es stimmte, dass ich sportlicher war als sie und trotzdem fand ich Amy schon immer hübscher. Die Linien ihres Körpers waren zarter, femininer. Manchmal fragte ich mich, ob ich genauso anmutig und stilvoll wirkte wie sie. Den Leuten auf der Straße wurde sofort klar, dass wir Zwillinge sind. Ich liebte sie sehr. Unsere Verbundenheit war stark. Vielleicht stärker als bei anderen Geschwistern.
    Es gab ein Geheimnis, von dem nur wir beide wussten. Wir sprachen nie darüber, doch wir spürten es. Ein Blick, eine Berührung und ich erkannte ihre Stimmung an der Farbe ihrer Aura, die aus ihrem Körper strömte. Für alle unsichtbar, nur für uns nicht. Es war unsere besondere Verbindung. Vielleicht eine Gabe, die wir uns seit unserer Geburt teilten. Manchmal lästig, aufdringlich und nervig. So spürte ich ganz instinktiv, wenn sie wütend, traurig, aufgeregt oder glücklich war. Es brachte mich dazu, sensibel darauf zu achten, in welcher Verfassung meine Schwester sich gerade befand. Das Wissen, vier Minuten älter zu sein, gab mir das Gefühl, sie schützen zu müssen, sie in die richtige Richtung zu lenken, sie hin und wieder zurechtzuweisen. Sie mochte es nicht besonders und manchmal stritten wir uns deshalb.
    Ganz oft träumte ich davon, ihre Aura nicht mehr lesen zu können. Jenes Farbenspiel, das es mir möglich machte, ihre Stimmungen zu deuten und ihren Seelenzustand zu lesen. Woher diese Gabe kam, wusste ich nicht, sie war einfach von Anfang an da. Wir wurden so geboren, zumindest glaubte ich es. Einmal googelte ich danach, doch ohne Ergebnis.
    Amy ist etwas Besonderes und das bewies sie, als wir zehn Jahre alt wurden. Während des Unterrichts wurden sie und ihre Freundin ermahnt, endlich still zu sein und aufzupassen. Doch es gab nichts Schwierigeres für sie, als eine Schulstunde lang ihre Klappe zu halten. Wütend saßen wir im Auto und wurden von Terry, unserem Chauffeur, nach Hause gefahren. Am Ende der Stunde hatte unser Mathelehrer ihr eine Strafarbeit aufgebrummt, über die sie sich maßlos ärgerte. Ich wollte sie besänftigen, doch das schürte nur noch mehr ihre Wut. Das Rot, das sie wie ein Nebel umhüllte, schrie mir entgegen, während ich versuchte, auf sie einzureden. Doch plötzlich war es verschwunden. Wie einen Lichtschalter hatte sie es ausgeschaltet. Einfach weg. Sie sah mich nicht mehr an. Und auch wenn ich sie berührte, ließ sie es nicht zu, dass ich ihre
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