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Seelenrächer

Seelenrächer

Titel: Seelenrächer
Autoren: G O'Carroll
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eine derart heftige Angst, dass ihm fast das Blut in den Adern stockte und seine Beine zu krampfen begannen, noch ehe er halb die Treppe unten war. Dann konnte er keinen Schritt weitergehen und musste Jimmy wecken, woraufhin der Junge aus seinem Zimmer gewankt kam und laut über den alten Mann und seine Verrücktheiten fluchte. Aber er war nicht verrückt. Was auch immer sie über ihn sagten, John wusste, dass er nicht verrückt war. Er sah die Toten in seiner Küche. Sie saßen an seinem Tisch, wenn der Teufel kam, um ihnen beim Kartenspiel die Seele abzuluchsen. Alle hielten ihn für übergeschnappt. Auch Jimmy. Der alte John aber wusste, wie es sich in Wirklichkeit verhielt: Das war kein Wahnsinn, sondern die Buße für alles, was er Lizzy nie gewesen war. Seine arme Frau hatte sich das Leben genommen und saß nun im Fegefeuer, und es war seine Aufgabe, für sie einzutreten. In all den Jahren hatte er sie nicht gesehen. Doch das Mädchen sehr wohl. Die junge Frau, die sie drüben ausgegraben hatten. Er hatte ihnen damals erzählt, dass er sie gesehen hatte, aber sie hatten ihm nicht geglaubt. Die Jungs von der Polizei klopften ihm nur auf den Rücken und sagten: »Danke, John.« Das war alles, was sie taten. Natürlich hatte er die Frau nicht wiedergesehen, er sah nur ganz selten jemanden zweimal.
    Allerdings hörte er ständig die Stimmen. Jetzt auch wieder. Das Wissen, dass sie dort unten waren, jagte ihm Schauder über den Rücken. Er musste aufstehen. Wenn er im Bett blieb und Lizzy verpasste, würde diese Tortur ewig so weitergehen.
    Er konnte sie in der Küche hören.
    Er hörte sie umso deutlicher, weil sein Sohn nicht zu Hause war. Es waren leise, heisere Stimmen, die fast wie Geflüster klangen. Eine nach der anderen rief ihn herbei.

Montag, 1. September, 03:00 Uhr
    Als er aus dem Traum hochschreckte, sah Patrick Maguire noch immer ihr Gesicht vor sich. Ihre Stimme konnte er auch hören und beinahe ihre Zigarette riechen. Er hatte genau vor Augen, wie ein einzelner dünner Rauchfaden zur Decke emporstieg, die davon im Lauf der Jahre gelbe Flecken bekommen hatte. Obwohl er inzwischen aufrecht im Bett saß, hörte er sie wieder reden, als säße sie in einer dunklen Ecke des Raumes. Doch die Stimme befand sich in seinem Kopf. Sie sprach immer nur mit seinem Bruder, nie mit ihm. Er wusste noch genau, dass sie sich sogar geweigert hatte, ihn auch nur anzusehen.
    Nach dem Regen lag Stille in der Luft. Obwohl die Fenster offen waren, drangen aus der Stadt kaum Geräusche herein. Die Stille erschien ihm gewichtig – dick und schwer, aber dennoch auf eine beklemmende Art lebendig. Es war drei Uhr morgens, und er war eher aus einer Erinnerung als aus einem Traum erwacht: der einzigen Erinnerung, die er an sie hatte. Nach all den Jahren hatte er die Nase voll davon. Seine Mutter im Sessel, mit ihrem strähnigen, zu einem Zopf geflochtenen Haar und der stinkenden Zigarette zwischen den Fingern, die vom Nikotin so wächsern geworden waren, dass sie wie die einer Gelbsüchtigen aussahen. Ihre Stimme war ebenfalls ruiniert: Sie krächzte nur noch wie die alte Hexe, die ihre Söhne im Wald beerdigte. Trinken, rauchen und herumsitzen, etwas anderes tat sie nicht. Den ganzen Tag schimpfte sie, was sie als Mutter von zwei Jungen durchgemacht habe. Es hieß nur »Frankie dies« und »Frankie das« und dass sie ohne die beiden bestimmt noch einen Ehemann gefunden hätte.
    Patrick sah die Feuchtigkeit, die durch die Wände drang. Er sah die Kalkablagerungen, die dick und braun das Spülbecken in der Küche verstopften und im Bad in der Kloschüssel klebten, eklig wie angetrocknete Kacke. Er erinnerte sich genau an ihre kalten, fast seelenlosen Augen und an die Art, wie sie ihn immer ignorierte und demütigte, indem sie so tat, als wäre er gar nicht vorhanden.
    Plötzlich packte ihn der Zorn. Er griff nach seinem Morgenmantel und ging in die Küche hinüber, wo er kurz stehen blieb, um die Fotografie zu betrachten, die er aus irgendeinem Grund noch immer auf dem Kaminsims stehen hatte. Da war sie, mit ihren glasigen Augen. Das Weinglas hatte sie versteckt, aber die allgegenwärtige Zigarette steckte zwischen ihren Fingern, und zwei Zentimeter grauer Asche drohten ihr gleich in den Schoß zu fallen. Und sie beide waren ebenfalls da, vaterlos und dennoch so pflichtbewusst, wie Söhne sein sollten: er und Frankie, stoisch wie immer, zu beiden Seiten ihres Sessels.
    Ihr schmaler Mund wirkte verkniffen. Orangeroter Lippenstift
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