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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter
Autoren: Laura Whitcomb
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das Auge, nicht lesbarer als ein Brief auf den flatternden Schwingen eines Kolibris.
    »Wunderschön«, sagte Ana ehrfurchtsvoll.
    Als das Boot anlegte, stürzten Rasputin und Alexis sofort an Land. Calder wartete darauf, dass Ana von der himmlischen Ekstase genauso überwältigt und sich dem Vergessen ergeben würde, das ihn von ihrer Liebe zu ihm kurierte. Doch sie hielt immer noch Calders Hand so fest wie zuvor. Und noch fester. Sein besorgter Blick verwirrte sie.
    »Hab keine Angst«, sagte sie.
    Es verzauberte ihn, dass sie dachte, er hätte Angst vor dem Himmel. Er half ihr an Land, blieb jedoch selbst auf dem Schiff. Sie ließ ihn nicht los, und als sie den Schmerz in seinen Augen bemerkte, wollte sie zurück an Bord klettern.
    Ana wandte den Blick nicht von Calder ab. »Komm mit mir«, befahl sie.
    »Ich kann nicht.«
    »Aber du bist mein Auserwählter«, sagte sie.
    Seine Stimme brach. »Und du bist meine Auserwählte.« Calder fühlte seinen Herzschlag bis in die Fingerspitzen, bis in Anas Hand. Er musste sich am Bootsrand festhalten, um nicht an Land zu springen und sie in die Arme zu reißen.
    »Du hast gesagt, du würdest uns niemals verlassen«, rief sie verzweifelt.
    »Es tut mir so leid.« Er befreite sich, als sich das Boot wieder zu bewegen begann.
    Wenn Alexis nicht einen Schritt nach vorn gemacht, einen Arm um Anas Taille gelegt und sie gestützt hätte, als sie zu weinen begann, hätte Calder für nichts garantieren können. Sie sah dem Boot nach, das sich von der Küste entfernte. Hinter Ana, Alexis und Rasputin, die die Abfahrt der
Comhartha
verfolgten, erhaschte Calder einen Blick auf einige andere Gestalten: Nikolaus, Alexandra und ihre Töchter. Zur Linken von Alexis stand Liam. Er winkte Calder zu und legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter.
    Ana rannte ihm nicht in die Wogen nach, kämpfte oder schrie, wie Calder es am liebsten getan hätte. Sie stand einfach nur da, die Augen unverwandt auf ihn gerichtet.
    Calder klammerte sich am Bootsrand fest, damit er nicht doch zurückschwamm, und blickte ihr nach, bis das Licht sie in einer goldenen Wolke verschluckt hatte.
    * * *
    »Kannst du mich in die Welt der Lebenden bringen?«, bat Calder.
    »Wie du wünschst«, antwortete der Captain.
    Sie segelten schweigend. Calder stand immer noch an der Reling und klammerte sich fest. Das Wasser war dunkel, das Elfenbein der Unterwasserstädte schimmerte wie Knochen unter der Oberfläche. Fische und Vögel waren verschwunden. Die Wolken waren dunkel und grollten leise.
    Er dachte daran, wie recht Ana gehabt hatte – sein Name war traurig und passte zu ihm. Ein Fluss voller Steine … natürlich konnte er sie nicht halten: Sie war das Licht und helle Wasser, das frei floss, er war der Stein unter ihr, schwer vor Schuld und Sünde. Ihre Freude hatte ihn nur für einen kostbaren Moment berührt. Obwohl er angenommen hatte, dass ihn die Trauer überwältigen würde, stand er noch aufrecht da. »Was für einen Schaden habe ich da nur angerichtet?«, fragte er den Captain.
    »Während du auf der Erde gestrandet warst«, sagte der Captain, »sind mehr Seelen verlorengegangen als in den letzten hundert Jahren.«
    Calder hatte so etwas schon vermutet, doch der Schlag war groß. Gequält ließ er sich an der Bootswand an Deck gleiten, hörte jedoch die beruhigende Stimme des Captains.
    »Komm her«, befahl er.
    Calder rappelte sich auf und stellte sich neben ihn ans Steuerrad.
    »Ich habe für dich gebetet«, sagte dieser. »Wir alle haben das.«
    Wir alle?
Ein Schauder überlief Calder. Hatten etwa alle Seelenhüter für ihn gebetet? Alle himmlischen Wesen?
    Der Strand der Begleiter kam immer näher, der Ort, an dem der Gang über die Passage endete – Calder hatte ihn noch nie von dieser Seite aus gesehen. Jede Seele nahm ihn anders wahr, für Calder war es eine Anhöhe mit weichem Sand, einem grasbewachsenen Hügel und einer Klippe inmitten von Zedern, die in den Himmel ragten. Als der Captain ihn just in diesem Moment ansah, war es, als würde er in einen Spiegel sehen.
    »Gib mir den Schlüssel«, bat ihn der Captain.
    Calder errötete, als er den halben Schlüssel an der Kette hervorholte. Der Captain nahm sie ihm vom Hals und seufzte. »Du bist nicht wie die anderen Begleiter, Calder.«
    Der Captain nannte ihn nur selten bei seinem menschlichen Namen. Eine schmerzvolle Ahnung ließ sein Herz zusammenkrampfen.
Er wusste immer schon die Wahrheit,
dachte er,
dass ich noch nie ein guter Begleiter
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