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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter
Autoren: Laura Whitcomb
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vernachlässigt und der Seele eines Jungen den Tod verweigert, als er darum bat. Ich habe den Körper dieses Mannes gestohlen und seinen Geist in das Land der verlorenen Seelen geschickt.« Er blickte zu Rasputin. »Wegen mir wurden die Verlorenen immer mehr und rastlos. Ich habe diesen Jungen und seine Schwester in die Irre geführt und ihnen den Schlüssel gegeben, ohne sie in das Begleiterdasein einzuführen. Ich habe meinen Schlüssel verloren …« Nun musste er das bekennen, was ihm wie die schlimmste Sünde vorkam, auch wenn er nicht wusste, was es zu bedeuten hatte. »Und jetzt ist er abgebrochen.«
    Das Gesicht des Captains blieb ernst. »Deine Sünden seien dir vergeben.« Er legte eine Hand auf Calders Kopf und beugte sich hinab, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. »Du weißt, was zu tun ist, um alles in Ordnung zu bringen.«
    Calder fragte sich, ob er sich verhört hatte. Man hatte ihm vergeben? Er konnte ohne weiteres glauben, dass selbst die schrecklichsten Sünder in dem Moment Vergebung erfuhren, in dem sie auf die Passage in den Himmel schritten, aber als Begleiter waren seine Verstöße doch viel schwerwiegender. Und, was noch unfassbarer war, seine Bestrafung lag in seinen Händen.
    Der Captain berührte ihn an der Wange, und der Schmerz verschwand. Dann richtete er sich auf und sprach so laut, dass alle ihn hören konnten. »Du wirst mit denen fahren, die du zu mir gebracht hast.«
    Überglücklich, dass man ihr den Geliebten nicht entriss, griff Ana wieder nach Calders Hand, und die vier gingen zu dem wartenden Schiff. Der Captain übernahm das Steuerrad, der Wind trieb die
Comhartha
aufs Wasser hinaus.
    Rasputin und Alexis saßen zu beiden Seiten des Bugs und erfreuten sich an den Besonderheiten des Flusses – wie er wie eine große Schlange anschwoll und sich voranwälzte, die sich ständig wandelnde Oberfläche wie himmelblaue Waagen. Ana und Calder saßen sprachlos auf einer Decke auf einer dicken Seilrolle unter dem Steuerrad aneinandergeschmiegt da. Sie fuhr sanft mit dem Finger über die feine Narbe, die von der Wunde zurückgeblieben war.
    Es war nicht leicht für Calder, Ana so nahe zu sein und sie so glücklich zu sehen, während er wusste, dass er noch für seine Sünden büßen musste. Sie ließ sich vom Himmel, über den die Nordlichter zuckten, ebenso von den smaragd- und rosafarbenen Vögeln verzaubern, die auf der Erde unbekannt waren und sich von den Windströmen tragen ließen. Von den Wolken, die ihnen in überwältigenden goldenen und lavendelfarbenen Bergen den Weg wiesen. Ana gesellte sich zu Rasputin und Alexis, um die Schwärme anmutiger Fische zu beobachten, die wie Edelmetalle glänzten und kreiselnd miteinander tanzten. Die elfenbeinernen Türme riesiger Unterwasserstädte ließen sie begeistert nach Luft schnappen.
    Ana konnte ruhigen Gewissens Calders Arme verlassen, weil sie glaubte, dass sie im Jenseits noch unzählige Küsse vor sich hatten. Er dagegen konnte sich nur den einen Kuss in Erinnerung rufen, in dem Hitze und Zärtlichkeit miteinander verschmolzen waren. Eine überwältigende Welt hatte sich ihm geöffnet, die für immer verloren war.
    Es war für Calder sehr wichtig gewesen, dass Ana sich an ihn erinnerte, als sie aus der Welt der Lebenden heraustraten, doch jetzt erkannte er, dass sie glücklicher wäre, wenn sie ihn nach Durchschreiten der Tore vergäße. Sie könnte die Freuden des Himmels genießen, lieben und von ihrer Familie geliebt werden, ohne sich nach ihm zu verzehren. Er wäre dann der Einzige, der leiden müsste. Nichts hätte ohne sie noch Sinn oder Farbe, aber das wäre dann Teil seiner Bestrafung.
    Ein mattes Licht stahl sich über den Horizont; sie hatten die andere Seite fast erreicht. Ana setzte sich neben ihn und legte sich seinen Arm um die Schulter. Sie griff in ihre Tasche und zeigte ihm mit einem strahlenden Lächeln, was sie gefunden hatte: die Elfenbeinperle, die er ihr vom Grund der Themse mitgebracht hatte. Er legte das Kinn auf ihren Kopf, als ein glückseliges und verheerendes Klingeln über dem Wasser ertönte. Es schimmerte auf den Wellen und glitzerte in Anas Augen. Trotz seiner Qual war er angesichts der sich nähernden Küste sprachlos, denn auf der Seite des Großen Flusses war er noch nie gewesen. Die Böschung, die sich zum Tor zum Himmel hinaufzog, pulsierte in himmlischem Licht. Es war nicht zu erkennen, woher das Leuchten kam: eine Bewegung, eine unstete Helligkeit von Rhythmus und Vibration, zu schnell für
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