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Seelenasche

Titel: Seelenasche
Autoren: Vladimir Zarev
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ebenfalls isst.
    Â»Ist diese Verabredung in einer halben Stunde wichtig?«
    Â»Natürlich ist sie das, sogar hochgradig. Wir treffen uns bei einem netten Freund zum Gruppensex.«
    Die Gabel klapperte ihm gegen die Zähne, als sei sein Mund ein Porzellanteller. Sein Adamsapfel, ausgeprägt und unrasiert, hob und senkte sich gleich mehrere Male. Nicht dass er schockiert war, nein, er war gedemütigt! Jetzt war sein Lächeln nicht mehr versonnen, sondern besorgt. Er war seinem Ziel so nahe, dass es schwer wurde, es noch zu erkennen. Die Geigenvirtuosen, die live aufspielten, waren Zigeuner; ihre Instrumente schluchzten in einem endlosen Csárdás. Das Gulasch verströmte Nelkengeruch. Das betäubte sie auf einmal so stark, als habe sie ein Blumengeschäft betreten. Das Theater hatte sie gelehrt, dass eine Situation nur möglich ist, wenn sie glaubwürdig wirkt.
    Â»Warum nimmst du mich nicht mit? In dem Geringe und Geschlinge falle ich doch gar nicht auf?«
    Â»Meine Freunde sind sensibel und schamhaft. Außerdem fehlt Ihnen der Sinn fürs Mythologische, und Gruppensex ist so etwas wie der mythische Flug. Und zwar nicht der eines einzelnen Vogels, sondern der einer ganzen Schar. Ein Vogel allein erreicht nämlich niemals die warmen Länder.«
    Â»Und was machen Sie, wenn Sie in Afrika landen?«
    Â»Na, nichts. Jeder schnappt sich seine Kleider und geht.«
    Beim Kontakt mit diesem Mann fühlte sie sich jedes Mal kleiner. Sie hatte sich nie erlaubt, ihn zu kränken, und dies nicht etwa aus Angst. Sie fürchtete eher, ihm damit Genuss, eine Art perverse Lust zu bereiten. Er seinerseits bemühte sich, sie zu hassen, doch Dessislava gab ihm nicht den geringsten Anlass, sich durch ein so tiefes menschliches Gefühl an sie zu binden. Besser man schenkte ihm eine Krawatte oder ein edles Gasfeuerzeug. Auch einige ihrer Freundinnen könnte sie ihm schenken – wenn, ja wenn die nicht schon »gebraucht« gewesen wären. Und das war doch eine Schande, jemandem etwas Gebrauchtes anzubieten, oder nicht?
    Sie spürte, wie ihre Augen feucht wurden. Evtimovs Gegenwart raubte ihr die Konzentration. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie aß ihr Gulasch auf oder sie fing an zu heulen wie eine alte Hündin. Sie biss auf eine Nelke.
    Â»Weißt du was?«, murmelte Evtimov rachsüchtig und spülte seinen Bissen mit einem Schluck Wein hinunter. »Du verpfuschst den Shakespeare.«
    Â»Shakespeare interessiert mich nicht. Ich will den Hamlet retten. Geschlagene vier Jahrhunderte stirbt er auf den Bühnen der Welt, durchstochen vom Degen seines Freundes. Es muss ihn endlich mal wieder jemand zum Leben erwecken.«
    Â»An Selbstbewusstsein fehlt es dir ja nicht.«
    Â»Schauen Sie, ich mache mir keine Illusionen. Ich weiß, dass ich nicht besonders begabt bin, aber ich bin ein modernes Mädel. Um den Prinzen zu retten, sind vor allem zwei Dinge nötig: Sim darf bis zu meiner vermaledeiten Prüfung keinen Alkohol anrühren, und Sie müssen mich in Ruhe machen lassen. Wenn ich durchkomme, wenn Sie Sotirov dazu bringen, mich zuzulassen und meine Diplomarbeit anzunehmen, dann verspreche ich Ihnen, was Sie wollen.«
    Â»Und der Gruppensex?«
    Â»Keine Sorge, ich habe ein Elefantengedächtnis. Wir ziehen uns alle aus, nur Sie behalten Ihren Anzug an. Danach ziehen wir uns alle an, und Sie strippen. Sie sind gutaussehend, intelligent und vornehm melancholisch. Und die Melancholie liegt diesem Erlebnis doch zugrunde. Der krankhaft entfremdete Mensch versteht es, sich einsam zu fühlen, und Einsamkeit ist doch der einzige Sinn von Gruppensex. Der Intimverkehr ist nur Anlass.«
    Â»Ich werde darüber nachdenken. Scheint mir reichlich kompliziert zu sein, die Sache.«
    Â»Wenn Sie Aufmunterung brauchen, schauen Sie sich ein paar schwedische Magazine an. Sim hat eine ganze Bibliothek davon bei sich zu Hause und hilft Ihnen sicher gern aus.«
    Â»Du bist wirklich sonderbar!« Evtimovs Bewunderung begann sie zu verwirren. Der Schmerz in seinen Augen war grausam. Er hatte Charme, Charme der alten Schule, und das erklärte, warum ihre Mitstudentinnen so willig waren und seine Ehefrau so hysterisch. In der Akademie verhielt er sich angemessen, wagte sogar als Einziger, dem heiligen Sotirov zu widersprechen. Das kam diesem aber eher zupass. Seine Macht als Rektor war so drückend, dass ein bisschen Widerstand ihr nur zu
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