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Seelenasche

Titel: Seelenasche
Autoren: Vladimir Zarev
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des Jahres 1986. Er trägt Jeans, der Sozialismus ist beinahe vollständig entwickelt, Breschnjew ist pompös, aber unwiderruflich gestorben, und einer seiner Nachfolger, der Mann mit dem Fleck auf der Stirn, führt uns auf den Weg der Freiheit, des kollektiven Glücks und dieser Perestrojka da.«
    Â»Hör zu, Dess«, flötete Sim, »mit dir kann man nicht arbeiten. Es ist quälend, verstehst du? Nervtötend, weil du alles weißt, aber nichts kannst. Du zeigst einem nichts, sondern erklärst; du forderst nicht, sondern willst einen überzeugen … Verflucht, mit diesem kubanischen Rum im Kopp fühlt sich mein Schädel an wie ’ne Kokosnuss! Wie soll ich es dir beibringen? Ich mag dich ja schrecklich gern, richtig voll die Liebe und so, aber wenn du einen auf Regisseur machst, hab ich gar keine Lust mehr, mit dir zu schlafen!«
    Â»Verehrter Prinz«, fuhr ihm Dessislava in die Parade, »wenn sich deine Männlichkeit wieder gelegt hat, fangen wir von vorn an. Und du …«, sie holte einen Zwei-Leva-Schein aus ihrer Tasche und reichte ihn ihrer Ophelia-Darstellerin, »… gehst morgen in den Imbiss auf der Graf-Ignatiew-Straße und bestellst dir keine dünne Suppe, sondern ein dickes Schweinekotelett. Außerdem verbiete ich dir, auf der Probe diese an ungebührlicher Stelle zerrissenen Damenstrümpfe zu tragen. Ich erkenne ja an, dass sie deinem Charisma einen weiteren Farbtupfer verleihen, aber sie bringen Hamlet aus der Fassung. Ich brauche einen Hamlet, der kalt und konzentriert ist wie ein Spiegel, damit sich in ihm die ganze moderne Gesellschaft spiegeln kann. Verstanden, Maja?«
    Â»Erscheinst du heute Abend auch bei Bobby auf der Bildfläche?«, fragte Maja. In der Stille hörte man, wie ihr Magen knurrte.
    Â»Sie wird schon kommen«, erwiderte Simeon an Dessislavas Stelle. »Wo ich doch da sein werde … Sie ist nämlich verliebt in mich. Ich empfinde zwar nichts für sie, aber ich mach ihr trotzdem den Hof, schließlich erbt sie eine Wohnung und eine Villa in bester Lage!«
    Dessislava stieg schon wieder über das Seitentreppchen von der Bühne herab. Der Saal nahm sie auf wie ein tiefer, weicher, aber seltsam kühler Leib. Sie musste an die Geschichte von Jonas und dem Wal denken, die ihre Großmutter ihr immer wieder erzählt hatte. Jonka mochte diese Parabel aus der Bibel, da sie in ihr etwas Uranfängliches sah. Indem sie den Wal mit dem gebärenden Schoß der Zeit gleichsetzte, half ihr die Geschichte, sich vorzustellen, wie ihre eigene Sippe von solch einem Wesen aus den Tiefen der Zeit in die Welt gespien worden war. Außerdem konnte nur die Zeit Dinge wieder ausspucken, die es zuvor verschluckt hatte.
    Dessislava verscheuchte diesen Gedanken rasch und setzte sich in die erste Stuhlreihe. Dieser Drang, lieben zu müssen, der sich wie ein Klageruf in ihrer Brust gemeldet hatte, war verhallt. Zu viele Worte verderben die Gefühle nur, verwandeln sie in Gewohnheiten. Manchmal ist das nützlich. Wird ein Mensch zum Beispiel von Kummer und Verzweiflung geplagt, so sollte er ununterbrochen reden, um seine Untröstlichkeit durch Worte auszuschwemmen. Sie stellte sich vor, wie Jonka auf dem harten Klappstuhl neben ihr saß. Alt und zu müde, noch zu richten – wie die Natur –, hatte sie Sinne nur für das Magische, Ungewöhnliche. Jonka hätte Hamlet sofort mit Jonas verglichen. »Der Mythos«, hätte sie ihr mit ihrer beschwörenden Stimme zugeraunt, »ist doch das Leben selbst.«
    Bedauerlicherweise war Jonka seit langem tot, folglich gab es nur noch Vergangenheit und Zukunft. Jonka wollte die Menschen um sich scharen. Die Liebe, dachte Dessislava, war ihr einziges Ziel, aber … kann die Natur überhaupt ein Ziel haben?
    Sie streifte ihre Stiefel ab und rieb sich die Zehen, um sich zu wärmen und zu konzentrieren. Dann flammte die Bühne vor ihren Augen auf. Jetzt standen Ophelia und Hamlet gut, sogar interessant; sie glichen Hippies, die aus dem Café Brasilia gekommen waren, um mal eben in der Tragödie der modernen Menschheit mitzuspielen. Simeon sah aus, als sei er plötzlich nüchtern geworden, und Maja, als habe sie sich satt gegessen. Jetzt funkte es zwischen ihnen, weil sie sich nicht berührten. Sie konnten zusammen nicht kommen wie Menschen, die zwei Parallelstraßen in einem eintönigen Plattenbauviertel entlanggingen …
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