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Seehamer Tagebuch

Seehamer Tagebuch

Titel: Seehamer Tagebuch
Autoren: Isabella Nadolny
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fährt er denn?« Wir werden ihn nicht taufen, nicht wahrhaft in die Familie aufnehmen. Es ist berechenbar, wann er uns wieder verläßt. Etwas anderes jedoch bleibt auch bei ihm unberechenbar, und das ist es, was mich heimlich nach einer Beschwörungsformel, einem Zauber suchen läßt, der dies Stück Schicksal bändigt, dem wir unser Leben anvertrauen.
     
     
     

21 . Mai
     
    Seit heute vor einem Jahr haben wir keine Katze mehr. Unser gelber Muckl ist und bleibt unersetzlich. Als zartes, aufgeregtes Wollknäuel kam er damals zu uns und teilte jahrelang freiwillig unser Leben. Leidenschaftlicher Kämpe und gefürchteter Nebenbuhler in Katzenkreisen, beliebt bei den Katzendamen Seehams, der Stimmlage nach ein Basso Buffo, kam er jedes Frühjahr zerschunden und ramponiert, mit verschwollenen Augen heim. Aus Diskretion machten wir kein Aufhebens von seinem Zustand. Dafür fügte er sich widerspruchslos in unsere Albernheiten und duldete sogar die Petunien in den Balkonkästen, wo er sich am liebsten sonnte (die Ohren schauten heraus und wurden vom Wind gekühlt). Er lebte im Paradies, weil er nicht wußte, daß seine Zeit bemessen war, und starb rasch und ohne Schmerzen an einer Lungenembolie wie der letzte König von England.
     
     
     

23. Mai
     
    Wieso gibt es kaum noch das »Butterbrotpapier« unserer Eltern und Großeltern? Alles wird in Plastikbeutel verpackt, unser ganzes Haus ist voll Plastikbeutel, weil alles und jedes darin feilgeboten wird: Kaffee und Karotten, Sauerkraut und Majonnaise, Hemden und Schlipse. Sie lassen sich nicht stapeln, krabbeln heimlich des Nachts hinter dem Vorhang hervor und lassen sich zu Boden gleiten. Ein unheimlicher Stoff, eines Morgenstern würdig. Ich habe die Kochlöffel umquartieren müssen, um alle Plastikbeutel ins Schubfach einzusperren. Sicherheitshalber!
     
     
     

24 . Mai
     
    Zu den Worten, die sich im Familienkreis eingebürgert haben — und dies zu meinem Verdruß — gehört endgültig das Wort »psychisch«. Als ich klein war, war eine Psyche ein Spiegel, der auf einem Mahagonisockel im Salon stand und vor dem man seine Sonntagskleider anprobierte. Einige Jahre später wurde Psyche zu einem übertriebenen holdseligen Flügelwesen auf Gemälden, das gerade von einem ebenso holdseligen Amor schnöde verlassen wird. Heute aber... Von jedem, der keinen Gurkensalat essen kann, ohne Bauchweh zu bekommen, oder der in gewissen Höhenlagen an Kopfschmerzen leidet, heißt es: »Das ist rein psychisch bei ihm.« Ich lasse das hingehen, weil ich es nicht nachkontrollieren kann. Stolperte man früher über den Teppich, so gab es zwei Möglichkeiten: den Teppich wieder geradezuziehen, oder die Schuhe zum Schuster zu bringen. Statt dessen wird einem nun bewiesen, daß man gegen Herrn Meier, der am anderen Ende des Teppichs stand, eine psychische Hemmung hat, und die bewanderten Laien kommen zu Schlüssen, über die man abwechselnd rot und grün werden kann, wie eine Verkehrsampel.
     
     
     

25. Mai
     
    Die Frage, die mich immer in fieberhafte Tätigkeit versetzt: »Können diese Zeitungen hier auf den Boden?« oder aber »Kann ich die Zeitung hier nehmen, Mami, meine Schuhe sind patschnaß, ich muß sie ausstopfen.«
    »Bitte nur den Anzeigenteil«, rufe ich ängstlich, lasse alle Arbeit fallen, an der ich gerade bin, und mache mich über die Nachrichten her. Ist es die Angst, etwas zu verpassen? Läßt sich das allzu unangenehm Aktuelle besser einnehmen, wenn es schon von vorgestern ist? Können die Ost-West-Beziehungen sich nicht inzwischen schon gebessert haben? Heute las ich nach über ein Ankopplungsmanöver im Weltraum, da fiel mir die Torte ein, zu der man so viele Eier braucht und die im Backofen war. (Warum nur hat man heute, Jahrzehnte nach der Währungsreform, noch immer ein köstlich schlechtes Gewissen, wenn man ein Rezept mit acht Eiern bäckt? Eine Kinokarte kostet doch schon viel mehr wie acht Eier?) Als ich zu Gagarin zurückkehren wollte, hatte doch jemand die Zeitung zum Schuh-Ausstopfen genommen. Es tut mir nicht einmal leid. Ich bin eben unfähig, weltgeschichtlich zu denken.
     
     
     

27 . Mai
     
    So ; der Geburtstag ist mal wieder geschafft. — Wie gerne feiere ich die meiner Lieben, wie ungeheuer ungern meinen eigenen. Wann hat sich das umgekehrt? Als Kind war ich sehr verstimmt, daß auch andere Leute wagten, gelegentlich Geburtstag zu haben, und liebte meinen eigenen riesig. (O Kränzchen im Haar, Schokolademaikäfer auf dem
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