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Second Face

Second Face

Titel: Second Face
Autoren: Carolin Philipps
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aus deiner neuen Heimat?« Lirim grinst sie an. »Wir könnten uns die Tempelburg am Kap Arkona ansehen. Da gab es einen richtigen Pferdekult. Die Pferde waren Orakel, mit deren Hilfe man das Schicksal voraussagen konnte. Aber man hat dem Gott Svantevit auch Menschenopfer gebracht.«
    »Du meinst Kannibalen? Hier auf der Insel?« Das wird ja immer schlimmer, denkt Marie. Niemals darf Lirim mit Anne zusammentreffen.
    »Ich weiß nicht, ob meine Vorfahren die Menschen dann auch gegessen haben. Mit den anderen Opfertieren haben sie es gemacht, also den Schweinen und Rindern. Und man weiß, dass Menschen dem Svantevit geopfert wurden.«
    Marie setzt sich neben ihn auf den Zaun. »Woher weißt du das alles?«
    Lirim zeigt mit dem Kopf auf den Stall. »Von Sven …«
    »Unserem Reitknecht?«
    Lirim nickt. »Ich habe praktisch meine ganze Kindheit hierim Stall verbracht. Und Sven kennt sie alle noch, die alten Sagen.«
    In diesem Moment kommt Sven aus dem Stall, ein Strahlen geht über sein Gesicht, als er Lirim erblickt. »Schön, dich mal wiederzusehen.«
    »Ist er das?«, fragt Marie. »Der pferdeverrückte Junge?«
    Sven lacht. »Genau der. Ich wusste ja nicht, dass ihr euch schon kennt! Ihr gebt ein hübsches Paar ab, ihr zwei.«
    Marie bekommt einen roten Kopf und auch Lirim schaut verlegen zur Seite. Nur der alte Sven hat offenbar seinen Spaß.
    »Ich hab Marie von Arkona erzählt.«
    »Warum zeigst du ihr nicht die Tempelburg?«
    »Zu weit zum Reiten.«
    »Ich helfe euch, die Pferde in den Anhänger zu laden. Du hast hoffentlich einen Führerschein?«
    Lirim nickt. »Das letzte Mal war ich mit Sven in Arkona. Wir sind mit dem Pferd über die alte Burganlage geritten. Die Touristen stolpern da zu Fuß lang, aber zu Pferd, da bekommst du das richtige Gefühl für die alten Zeiten …Warum kommst du nicht mit, Sven?«
    Der schüttelt nur den Kopf. »Ich kann das Fohlen nicht alleinlassen.«
    Er hilft, Svantevit und Triglaw, Lirims schwarzen Friesenhengst, zu verladen, und dann setzt sich Lirim ans Steuer und fährt langsam los. Marie sitzt aufgeregt neben ihm. Wenn ihre Familie wüsste, wie spannend ihr Wochenende ist! Na ja, besser, sie wissen es nicht so genau.
    Am Kap Arkona parken sie und laden die Pferde wieder aus.
    Hoch über dem Meer, umgeben von drei Steilküsten liegen die Reste der Burganlage. Im Inneren des grasbewachsenen Walles sieht man nur noch wenige Steine.
    Lirim reitet auf die Mitte zu, kümmert sich nicht um dieBlicke der Touristen. »Hier ungefähr lag der Tempel«, erklärt er. »Und darin befand sich die Figur des höchsten Slawengottes Svantevit. ›Mächtiger Herrscher‹ heißt das. Er hatte vier Köpfe, vier Bärte und vier Hälse. Jeder Kopf schaute nach einer anderen Himmelsrichtung. Ungefähr drei Meter hoch war die Figur. Niemand außer dem Priester durfte in den Tempel hinein.«
    »Und hier hat man auch die Opfer dargebracht?«
    Lirim nickt. »Der Priester hat vom Blut gekostet, damit er die göttlichen Anweisungen besser versteht. Und hat dann im Namen des Gottes gesagt, ob man einen Krieg führen sollte oder nicht. Hier war der Pferdestall für dreihundert Pferde. Und hier hat’s immer ein weißes Kultpferd gegeben, wie deinen Schimmel. Nur der Priester durfte es pflegen und aufsitzen. Es heißt, der Gott Svantevit hat auf diesem Pferd seine Kriege geführt. Und Pferde wurden auch sehr häufig als Orakel benutzt.«
    »Orakel?«
    »Na ja, bevor die Slawen …«
    »… deine Vorfahren …«
    Lirim grinst und fährt fort: »… in den Krieg zogen, stellten die Tempeldiener eine dreifache Reihe von Speeren vor dem Tempel auf, immer zwei zusammen mit der Spitze zur Erde. Dann führten sie das Kultpferd vor die Speere. Wenn es sie mit dem rechten Bein zuerst überstieg, galt das als glückliches Zeichen.«
    »Und wenn das Pferd zuerst das linke Bein hob?«
    »Dann wurde der Krieg verschoben. Nun schau mich nicht so ungläubig an! Die Römer haben ihr Kriegsglück aus den Eingeweiden von Vögeln abgelesen. Glaube und Aberglaube. Selbst heute lesen die Leute Horoskope, um zu erfahren, ob sie in der nächsten Woche Glück in der Liebe haben. Hat sich nicht viel geändert seit damals.«
    An Lirims Seite erkundet Marie das, was von der einst mächtigsten Burg der Slawen auf Rügen übrig geblieben ist. Als die Dänen Rügen eroberten und das Land christlich wurde, verschwand auch nach und nach die Bedeutung der Pferde als Kultwesen. »Hier auf Rügen hat man sich ganz lange gegen die
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