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SdG 09 - Gezeiten der Nacht

SdG 09 - Gezeiten der Nacht

Titel: SdG 09 - Gezeiten der Nacht
Autoren: Steven Erikson
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gegenüber den Kampfgeräuschen, dem Geheul der Wölfe, den von fern herandringenden Schreien draußen in der Stadt. Und hatte dann und wann zu sich selbst gesagt, dass sie wartete. Das Ende einer Sache führte schließlich zur Geburt einer anderen.
    Das Leben und die Liebe – die Tonleiter des Daseins war von solchen Dingen gekennzeichnet. Ein Wechsel der Richtung, des fehlerhaften ungleichmäßigen immer weiter Voranstolperns. Blut trocknete schließlich irgendwann. Verwandelte sich in Staub. Die Leichname von Königen wurden in Dunkelheit abgelegt und eingeschlossen, um vergessen zu werden. Gräber wurden für gefallene Soldaten ausgehoben, gewaltige Gruben, wie vor Hunger weit aufgesperrte Münder in der Erde, und alle Leichen wurden hineingeworfen, wobei jede einen letzten Hauch aus Lehmstaub ausstieß. Die Überlebenden trauerten eine gewisse Zeit, starrten in leere Räume und auf leere Betten, auf verstreut herumliegende Besitztümer, die niemandem mehr gehörten, und fragten sich, was kommen würde, was neu auf der sauber gewischten Schiefertafel geschrieben werden würde. Fragten sich, wie kann ich weitermachen?
    Königreiche und Imperien, Kriege und Streitigkeiten – sie war all dieser Dinge überdrüssig.
    Sie wollte fort. Weg, so weit weg, dass nichts von ihrem früheren Leben auch nur die geringste Rolle spielen würde. Dass es keine Erinnerungen mehr gab, die ihre Schritte in diese oder jene Richtung lenken könnten.
    Corlo hatte sie gewarnt, nicht in den Kreislauf des Weinens zu verfallen. Und daher saß sie jetzt mit trockenen Augen da und ließ die Stadt da draußen sich selbst beweinen. Sie war fertig mit diesen Dingen.
    Ein Klopfen an der Tür.
    Seren Pedac blickte ins Vorzimmer, und ihr Herzschlag geriet ins Stocken.
    Ein kräftiges Geräusch, das sich jetzt hartnäckig wiederholte.
    Die Freisprecherin stand von ihrem Stuhl auf, kam ins Stolpern, weil ihre Beine kribbelten – sie hatte sich lange nicht bewegt –, und ging mit ungleichmäßigen Schritten zur Tür.
    Die Abenddämmerung war hereingebrochen. Sie hatte es nicht bemerkt. Jemand hat eine Entscheidung getroffen. Jemand hat diesen Tag beendet. Warum sollten sie so etwas tun?
    Absurde Gedanken, die wie von außen in ihren Verstand gestoßen wurden, im Tonfall leichter Ironie, in die Länge gezogen wie ein geheimer Witz.
    Sie war jetzt an der Tür. Zuckte zusammen, als das Klopfen erneut ertönte, auf gleicher Höhe mit ihrem Gesicht.
    Seren machte auf.
    Und fand sich Forcht und Trull Sengar gegenüber.
     
    Trull konnte es nicht verstehen, doch es hatte den Anschein, als wären seine Schritte – diese Gasse hinunter, jene Straße entlang  – mit unbeirrbarer Genauigkeit durch die große Stadt gelenkt worden, bis er in der Düsternis seinen Bruder ein Stück voraus erblickte. Der gerade zielstrebig über eine kleine Brücke des Hauptkanals schritt. Sich überrascht umdrehte, als er Trulls heiseren Ruf hörte. Und dann wartete, bis sein Bruder ihn eingeholt hatte.
    »Rhulad ist wieder zum Leben erweckt worden«, sagte Trull.
    Forcht schaute weg, blinzelte in die Schatten des anscheinend reglosen Wassers im Kanal. »Durch deine Hand, Trull?«
    »Nein. Was das angeht … habe ich versagt. Es war etwas anderes. Eine Art Dämon. Er ist gekommen, um den Kämpen zu holen – ich weiß nicht, warum, aber er hat den Leichnam des Mannes mitgenommen. Nachdem er Rhulad getötet hatte – was er für einen Akt der Barmherzigkeit hielt.« Trull verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Ein Geschenk der Unwissenden. Forcht –«
    »Nein, ich werde nicht zurückkehren.«
    Trull starrte ihn an. »Hör mir zu. Bitte. Ich glaube, dass wir ihn wieder auf den rechten Weg führen können, wenn wir zusammenarbeiten. Dass wir ihn aus seinem Wahnsinn herausholen können. Um der Schwestern willen, Forcht, wir müssen es versuchen. Für unser Volk –«
    »Nein.«
    »Du … du willst mir das allein überlassen?«
    Schmerz zeichnete sich auf Forchts Gesicht ab, doch er weigerte sich, seinem Bruder in die Augen zu schauen. »Ich muss gehen. Ich habe inzwischen etwas begriffen, verstehst du. Das alles ist nicht Rhulads Werk. Und auch nicht das von Hannan Mosag. Es ist das Werk von Vater Schatten, Trull.«
    »Scabandari Blutauge ist tot –«
    »Sein Geist ist es nicht. Er ist noch immer … irgendwo. Ich habe vor, ihn zu finden.«
    »Und wozu?«
    »Wir sind benutzt worden. Wir alle. Von demjenigen, der hinter dem Schwert steckt. Niemand sonst kann uns retten, Trull.
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