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Schwester Lise

Schwester Lise

Titel: Schwester Lise
Autoren: Berte Bratt
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nie im Arztkittel gesehen! Und sie sah sich selbst in ihrem hübschen weißen, gestärkten Sprechstundenkittel. - Sie würde mit blitzend sauberen Gegenständen arbeiten, weicher Watte und schneeweißem Mull, vielleicht ab und zu einen Kranken an der Hand halten, kleine Kinder, denen in den Hals geschaut werden mußte oder die abgehorcht werden sollten, Kinder, die vor dem Doktor Angst hatten und eine liebe Tante brauchten, um sich von ihr trösten zu lassen.
    Der Dorfkrämer und sein Sohn waren am Steg. Sie schüttelten Halfdan die Hand und hießen ihn willkommen. Der Sohn sollte sich des Gepäcks annehmen und sie hinaufbegleiten. Na also! Er hatte sich darauf eingerichtet. Das Pferd stand angeschirrt. Es war alles in Ordnung!
    Die Koffer wurden auf dem Karren verstaut, Tante Bertha mitten dazwischen. Halfdan und Eirin trabten hinterdrein.
    Sie sprachen nicht. Aber Halfdan hatte den Arm fest und beschützend um ihre Schultern gelegt. Wenn Eirin diesen Arm um sich fühlte, dann wußte sie: Was auch in der Welt geschehen würde, sie war geborgen.
    Aber schon grübelte sie wieder: Empfand sie Reue? Würde sie lieber in Oslo sein? Würde sie jetzt gern im Spiegelsaal sein und tanzen? Möchte sie einer guten Jazzkapelle zuhören, daß ihr der Rhythmus in die Beine fuhr, vielleicht gut essen, sich in dem neuen korallenroten Abendkleid wohl fühlen - sich von einem aufmerksamen, ein wenig verliebten Ritter im Auto nach Hause fahren lassen? Nein, nein, tausendmal nein! Sie bereute nichts. Sie straffte den Rücken und fühlte sich mit einemmal stark. Weg mit all dem, was hinter ihr lag, mit allem, was sie bisher erlebt hatte! Weg damit, vergiß es! Jetzt hatte die Zukunft das Wort. Sie wollte sich alle Mühe geben, sie wollte Halfdan zeigen, daß sie ein erwachsener Mensch war, auf den er sich verlassen konnte, jawohl - verlassen konnte!
    Es war gut, daß Eirin sich auf dem Weg ins Gebet genommen hatte. Sie sollte ihre guten Vorsätze brauchen.
    Als der Gaul mit dem Karren vor einem alten graubraunen Hause hielt, dessen Putz überall abblätterte und rissig war, einem sonderbaren, kastenähnlichen, kahlen, kalten Monstrum von einem Hause, da dachte Eirin, sie sollten hier irgendwo von der Straße abbiegen und es müßte noch weit bis zum Doktorhaus sein. Ein Haus, das auch nur annähernd so aussah, wie Eirin es sich vorgestellt hatte, war nicht zu erspähen.
    Aber - was gab’s denn jetzt? Tante Bertha wurde vom Karren gehoben! Und der junge Mann schickte sich an, die Koffer hineinzutragen! Da ging die Tür auf, eine grauhaarige, hagere Frau in blauer Schürze trat heraus und begrüßte Tante Bertha.
    Das war doch nicht etwa - das konnte doch nicht -!
    Eirin sah hilflos zu Halfdan auf. Auch er blickte fragend und suchend umher. Auch er schien beunruhigt und ratlos. Wie sie es fertigbrachte, ein Lächeln aufzusetzen, blieb ihr selbst ein Rätsel. Und wie aus weiter Ferne hörte sie plötzlich ihre eigene, natürliche Stimme:
    „Sind wir schon da? Du kannst mir glauben, jetzt bin ich gespannt! Ich werde auf der Stelle das ganze Haus durchstöbern!“
    Über Halfdans Gesicht flog ein Ausdruck der Erleichterung, und Eirin hatte das Gefühl, als habe sie von ihrem schlechten Gewissen ein wenig abgegolten.
    Aber es sollte noch ganz anders kommen!
    Eirin fiel von einer Enttäuschung in die andere. Zuerst der eisigkalte Flur. Er war finster und unfreundlich; eine steile Treppe führte zum ersten Stock hinauf. Das Wohnzimmer, das allerdings mit Halfdans hübschen Möbeln eingerichtet war, hatte fleckige und zerfetzte Tapeten, und die Decke blätterte ab. Der Teppich war zu klein. An allen vier Seiten sah der abgetretene Fußboden in einem breiten Streifen hervor. Und der Kachelofen, der offene Kamin - wo war der? Ein ganz gewöhnlicher schwarzer, eiserner Ofen stand in einer Ecke, das war alles. Er zog anscheinend nicht einmal richtig; jedenfalls strahlte er keine große Wärme aus.
    „Es drückt hier so rein, wenn der Wind von der Seite kommt“, erklärte Lina Skjarvik, die ihnen vorausging und ihnen alles zeigte. Sie war wortkarg und ernst.
    Das enge, dunkle Eßzimmer war in einer Art nachgemachtem Blockhüttenstil gehalten; seine Balkenwände und geschnitzten Drachen wirkten wie Attrappen. In der übertrieben großen Küche standen alte, abgenutzte Möbel und ein Herd. Der Fußboden war abgetreten. An den Schranktüren war die Farbe abgegriffen. Es roch penetrant nach Petroleum.
    „Kochen Sie mit Petroleum?“ fragte Eirin. Es
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