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Schwarzer, Wolf, Skin

Schwarzer, Wolf, Skin

Titel: Schwarzer, Wolf, Skin
Autoren: Marie Hagemann
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Türken vor das Bild von Andy. Das Bild des Türken und Andy, der sagte: »Du sollst nicht töten.«
    Ich wurde gepackt. Mit Gewalt. Ich lag auf dem Boden.
    Polizei.
    Bäume. Blätter. Aber keiner sagte mehr: »Was?« Ich lag auf dem Rücken und schaute hinauf. Ich spuckte meinen Kaugummi aus.

22
     
     
     
    Andy ist tot. Nein, nein. Andy ist nicht tot. Er lebt nicht mehr. Nein, nein, er lebt. Bestimmt. Ich will ihn suchen, will ihn finden. Nein, nein, ich kann ihn nicht suchen. Ich bin gefangen.
    Ich lege meine Hände vors Gesicht, damit ich nichts sehe. Nein, nein. Ich sehe nach innen. Ich habe den Kopf voller Bilder. Sie lassen mich nicht los.
    Andy ist tot. Nein, nein. Andy ist nicht tot. Ganz lebendig seh ich ihn vor mir: den dunklen Flaum auf dem Kopf, wenn die Haare langsam nachwachsen. Das feine Gesicht. Seine Fragen. Viel zu viele Fragen.
    »Verräter!« schrien sie neben mir. Die andern Skins. Kumpels. Die Bullen guckten. »Verräter!« Der Polizeiwagen raste. »Verräter!« Sie denken, ich hätte das mit dem Andy verabredet, das mit dem Kind aus dem brennenden Haus. Doch sie verstehen nicht, daß ich gar nichts weiß, daß ich gar nichts verstehe. Gar nichts.
    »Warum handeln Menschen gegen ihren eigenen Willen?« Das hatte Andys Vater gesagt. Der Satz muß es wohl sein. Er hatte damit Andy gemeint.
    Und plötzlich hab ich ein Bild vor mir, von Andy: Ich glaube, Andy war selbst ein brennendes Haus und hat sich da herausgetragen. Sich selbst. Das Kind. Hat sich gerettet. Und ist doch tot und gerettet.
    Ich sehe ihn vor mir: »Mensch ist Mensch!« ruft er mir zu. Und sagt seiner Lehrerin, die er mochte: »In Auschwitz sind noch Plätze frei.« Und sein Vater sagt: »Warum handeln Menschen gegen den eigenen Willen?«
    Und Andy ist wieder da und spuckt Ramona ins Gesicht und tritt sie. Sie weint, das Skinmädchen. »Ich tu das, was ich nicht will, und will das, was ich nicht tu«, hat er mal gesagt. Es war ein Scherz. Aber der Scherz war wahr. Ganz wahr.
    »Verräter!« flüsterten sie. Fünf Skinköpfe neigten sich über mich. Bilder verwischen. Wer das noch nicht erlebt hat, der weiß auch nicht, was das heißt. Fünf Skinköpfe. Es ist wie ein Film. Aber es ist echt. Sie knieten auf meiner Brust. Wenn die Bullen nicht gewesen wären… Die schützten mich jetzt. Verrückt.
    »Verräter!« zischten sie. Wo ist Andy? Wo ist er? »Verräter!« flüsterten sie. »Verräter! Verräter!«
    Verräter ist der, der fragt. Verräter ist der, der denkt.
    Das Martinshorn. Der Gefängnisaufgang. Die Mauer. Ich stolperte in meine Zelle.
    Wo ist Andy?
    »Er ist doch nicht tot!« sagte ich zu einem Wärter.
    »Doch«, sagte der Wärter.
    Dann ging der Schlüssel.
    Ich konnte nicht schlafen. Ich wollte nicht schlafen. Ich mußte Andy suchen. Ich trommelte gegen die Tür. Ich trat. Ich schrie.
    »Verräter!«
    »Ich glaube, er ist verrückt«, sagte einer.
    »Es gibt Nächte ohne Stern, ohne Traum, ohne Zeit«, sagte ich.
    Sie legten mir Handschellen an. Sie gaben mir Tabletten und Spritzen. Ich schlief. Ich suchte weiter.
    Es stimmte nicht. Alles stimmte nicht. Der Zweifel ist in mir. Wie ein Dorn. Er sticht. Ich schrie.

23
     
     
     
    Wie ist alles gekommen, haben sie mich gefragt. Die Polizei, meine Mutter, alle. Wie ist alles gekommen?
    Scheuerer sitzt. Dolf. Alle.
    Sie schieben die Schuld an dem Türkenmord auf Andy. Ich wollte die Wahrheit sagen, aber ich hab’s doch nicht getan.
    Ich wurde im Krankenzimmer wieder wach. Ich hatte getobt und um mich geschlagen.
    Wie ist alles gekommen? Ich will es herauskriegen und fange an.
    Andy hat mir einen Brief geschrieben. Er hatte ihn zu Hause neben seinem Bett liegen.
     
    Wolf,
    Wolf, ich weiß, daß bald etwas passiert
    Wolf, ich weiß, daß etwas passieren muß.
    Weil ich nicht weitermachen kann. Weil die andern das merken. Weil sie das nicht ertragen können.
    Es war gut, plötzlich ein Ziel zu haben – was haben wir überhaupt noch für Ziele in unserer Gesellschaft?
    Aber es war dann fast wie eine Sekte, wie eine falsche Religion. Alles wurde dem großen Ziel untergeordnet Persönliche Entscheidung war nicht mehr gefragt. Brutalität und Gewalt konnten eingesetzt werden, um das Ziel zu erreichen.
    Der Führer bestimmt. Fragen darf man nicht. Alles ist einheitlich.
    Und der Totaleinsatz! Immer ist man im Kampf! Da kann ich nicht mitmachen! Ich hob aber Angst allein. Weil ich nicht genug Stand hob in mir. Steh mal so gerade, ohne daß Du Dich abstützt!
    Viele Ideen
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