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Schwarzer Neckar

Schwarzer Neckar

Titel: Schwarzer Neckar
Autoren: Thilo Scheurer
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junge Mann. Treidler wusste warum: Jeder kannte sein Gesicht. Schließlich war es monatelang durch die Presse gegangen, und seither war er bekannt wie der sprichwörtliche bunte Hund. Nicht nur in Rottweil, sondern im gesamten Kreisgebiet und weit darüber hinaus.
    »Du bist neu hier, oder?«, rief Treidler dem Mann entgegen, bevor dieser etwas sagen konnte.
    Der Angesprochene nickte vorsichtig und ließ ihn nicht aus den Augen.
    Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, stapfte Treidler in Richtung des Bushaltehäuschens davon.
    Eine Handvoll Halogenstrahler, die nahezu kreisförmig den Platz umgaben, drängte den letzten Rest der Morgendämmerung zurück. Im gleißenden, schattenlosen Licht hantierte eine Gruppe von Menschen in weißen Einweg-Overalls und grünlichen Überziehern an den Schuhen.
    Bei dem Wartehäuschen handelte es sich um eines jener verwahrlosten Exemplare, die im Grunde schon lange abgerissen gehörten.
    Halb verfallen und übersät mit Graffitis, bot es kaum Schutz vor dem Wetter. Allenthalben hatte die Witterung das Holz derart verformt, dass sich daumendicke Spalten zwischen den Brettern auftaten. Unter dem löcherigen Vordach verband eine Sitzfläche aus roten Kunststoffsparren die Seitenwände. Auf der linken Seite, dort, wo die Sparren schon die Wand berührten, lehnte ein Körper.
    »Morgen«, grüßte ihn einer der Männer und kam auf ihn zu. Die auffallend hagere Gestalt in dem weißen Overall sah aus wie ein überlanger Zahnstocher, der noch in der Papiertüte steckte. Die Kapuze über dem Kopf sparte von seinem Gesicht gerade mal einen handtellergroßen Bereich aus. Alles oberhalb der feinen Augenbrauen und unterhalb des Kinns schimmerte nur leicht unter dem halb durchsichtigen Material hervor. Lediglich seine braunen Augen ließen auf dunkle Haare schließen.
    »Und, habt ihr was für mich, Ernie?«, brummte Treidler.
    »Mal wieder gute Laune, Wolfes?« Berthold »Ernie« Amstetter, Leiter der Kriminaltechnik Rottweil und ein wahres Genie in Sachen Computer, gehörte zu den wenigen Menschen, die Treidler auch nach dem Prozess mit seinem Spitznamen ansprachen.
    »Lass mich mit deinen Bemerkungen in Ruhe«, gab Treidler zurück und vergrub seine Hände in den Manteltaschen.
    Amstetter schüttelte den Kopf und sagte in sachlichem Tonfall: »Einschuss aus nächster Nähe, vermutlich aufgesetzt. Der war sofort tot.«
    »Wie lang ist das her?« Treidler blieb stehen, ignorierte aber Amstetter. Stattdessen ließ er seinen Blick über die Menschenmenge schweifen. Zahllose Schulkinder mit dicken Taschen oder Rucksäcken schienen sich über den Ausfall einiger Unterrichtsstunden zu freuen. Einige warfen Schneebälle und tobten lachend umher. Daneben standen Hausfrauen und Bauern, die der Fund des Toten an der Bushaltestelle von ihrem Tagesablauf abhielt. Jeder tat seine Meinung kund, und erregtes Stimmengewirr lag in der eisigen Luft.
    »Vor ein paar Stunden.«
    »Geht das auch ein wenig genauer, oder soll ich raten?« Treidlers Worte klangen schroff.
    Amstetter zuckte mit den Schultern. »Ja – so zwischen zwei und drei. Genauer geht’s gerade nicht – die Temperatur war heute Nacht ziemlich niedrig.«
    Treidler ließ die Rechtfertigung unkommentiert. »Name?«
    »Keine Ahnung.« Amstetter schüttelte ein weiteres Mal den Kopf. »Er trägt keinerlei Papiere bei sich. Nichts – rein gar nichts. Noch nicht mal eine Geldbörse.«
    Treidler betrachtete die Leiche genauer. Auf den ersten Blick gab es keinen Anhaltspunkt, dass der Mann nicht mehr lebte. Die Augen waren geschlossen, und der Kopf hing nur leicht zur Seite. Das ausdruckslose, von Falten zerfurchte Antlitz wies auf ein hohes Alter hin. Er schätzte den Mann auf jenseits der achtzig. Die Gestalt in dem Anzug aus dunkelblauem, filzartigem Stoff und weißem Hemd mit himbeerfarbener Krawatte saß zusammengekauert da, fast so, als ob sie schliefe. Ein kleines, hässliches Loch links oberhalb der buschigen Augenbrauen zeugte vom Eintritt der Kugel in den Schädel. Und in der Tat, die Wunde sah nach einem aufgesetzten Schuss aus: Scharf grenzte ein dunkler Ring die Haut ab.
    Treidler trat einen Schritt auf den Toten zu und setzte sich direkt neben ihn auf die Bank. An der rückwärtigen Wand, in Höhe des Hinterkopfes, fand er dünne Blutspritzer. Offensichtlich war an dieser Stelle die Kugel wieder ausgetreten.
    »Das war bestimmt ein Killer«, mutmaßte Amstetter, der Treidler beobachtete.
    »Ein Killer?« Treidler schob die Hand
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