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Schwarzer Neckar

Schwarzer Neckar

Titel: Schwarzer Neckar
Autoren: Thilo Scheurer
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in das altertümlich anmutende Gerät.
    »Eine Leiche, einen Mord …«, erwiderte eine ihm unbekannte Stimme. Der Mann am anderen Ende der Leitung klang aufgeregt.
    »Verarscht euch doch selbst«, knurrte er und drückte den roten Knopf, um das Gespräch zu beenden. Ungerührt warf er das Mobiltelefon auf den Tisch, wo es direkt neben seiner Pistole liegen blieb.
    Nach genau der Zeit, die das System in der Dienststelle benötigte, um eine zwölfstellige Nummer zu wählen, vibrierte das Telefon abermals und schob sich dabei wie ein dicker Käfer über den Pizzakarton. Gleichgültig schaute Treidler dem Handy zu, während es sich auf die Wodkaflasche zubewegte. Erst kurz bevor es die angetrocknete Tomaten-Käse-Pampe erreichte, nahm er das Gerät vom Tisch und drückte erneut den Knopf, um das Gespräch entgegenzunehmen.
    »Habt ihr immer noch nicht genug?«, grollte er.
    »Es stimmt wirklich, Herr Hauptkommissar«, sagte die Stimme scheppernd. Sie klang noch eine Spur aufgeregter als zuvor.
    Treidler spürte, dass es dem Kollegen am anderen Ende bitterernst war. »Wo?«
    »In Florheim. Das ist ein kleines Dorf. Es liegt in der Nähe von …«
    »Ich weiß, wo Florheim liegt«, unterbrach Treidler ihn barsch. »Wo genau, will ich wissen.«
    »Die Leiche wurde in einem Wartehäuschen an der Bushaltestelle im Ortszentrum gefunden. Sie können es nicht verfehlen, dort gibt’s nur eine.«
    »Gut.« Treidler dachte einen Moment darüber nach, ob er selbst fahren oder sich abholen lassen sollte. »Ich komme direkt hin«, sagte er schließlich – trotz des zweifellos viel zu hohen Alkoholgehaltes in seinem Blut. Er wollte auflegen, entschloss sich jedoch im letzten Augenblick dagegen und nahm das Telefon erneut ans Ohr. »Ist die Neue schon da?«
    Nach einer kurzen Pause – die Verwirrung am anderen Ende war nahezu greifbar – erwiderte die Stimme: »Ähm … wer, Herr Hauptkommissar?«
    »Vergiss es.« Er legte auf.
    Treidler blieb sitzen. Seine Gedanken kreisten zwischen dem Toten im Wartehäuschen, dem nahenden Weihnachtsfest und der roten Mappe auf dem Tisch. Und mit einem Mal klang die Musik aus den Lautsprechern so unpassend wie aus einer anderen Welt.
    Eine Leiche. Womöglich ein Mord? Trotz der vielen Verbrechen, die ohne Wissen der Öffentlichkeit auch in einer Kleinstadt wie Rottweil geschahen, gab es einen Mord nur ein paarmal im Jahr.
    Ursprünglich hatte Treidler gehofft, in seinem Urlaub mehr Zeit für den Fall zu finden, der seinen Namen trug. Denn nur deswegen nahm er die ganzen Anstrengungen und Demütigungen auf sich. Doch seit einigen Wochen spürte er auch eine Art Beklemmung. Dieses ungreifbare Gefühl der Ohnmacht sickerte wie feiner Sand langsam, aber stetig in seine Gedanken und übernahm die Kontrolle. Meist spülte er es mit Alkohol hinunter, das half immer. So wie gestern Abend. Übrig blieben zwei leere Flaschen billigen Rotweins und eine halb volle Flasche noch billigeren Wodkas, die jetzt mit einigen anderen das Leergutlager auf dem Wohnzimmertisch vergrößerten.
    Angewidert schloss Treidler die Augen und rieb sich die Lider. Dieses verfluchte Datum warf ihn vollkommen aus der Bahn. Heute, am 19. Dezember, jährte es sich zum zweiten Mal. Wie zum Teufel sollte er diesen Tag durchstehen? Mit tiefen Atemzügen versuchte er, die qualvollen Bilder aus seinem Kopf zu vertreiben. Nicht der Sauerstoff, sondern der faulige Gestank des Alkohols nahm ihm schließlich eine Entscheidung ab. Stöhnend hievte er sich vom Sessel hoch und wäre beinahe vornübergekippt. Säuerlicher Mageninhalt stieg ätzend seine Speiseröhre hoch. Es dauerte eine ganze Weile, bis sein Gleichgewichtssinn den Körper so weit auszubalancieren vermochte, dass er sich mit wackeligen Schritten ins Badezimmer wagen konnte.
    Treidler vermied es, in den Spiegel zu schauen, während er den Hahn bis zum Anschlag aufdrehte. Das Wasser spritzte über den Beckenrand und verströmte eine frostige Kälte. Er blickte dem Strahl eine Zeit lang nach, wie er im Ablauf verschwand, und hielt dann ruckartig seinen Kopf darunter. Sekundenlang ließ er das eisige Nass über Gesicht und Haare laufen. Sein Herzschlag erhöhte sich, und schmerzhaft kamen die Lebensgeister zurück. Die fettige Pizza und der exzessive Alkoholgenuss der letzten Nacht forderten ihren Tribut: Er erbrach sich.
    Schließlich rappelte sich Treidler wieder auf und schaute nun doch in den Spiegel. Der Mann, der ihn daraus anblickte, sah noch entsetzlicher aus, als er
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