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Schwarzer Neckar

Schwarzer Neckar

Titel: Schwarzer Neckar
Autoren: Thilo Scheurer
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befürchtet hatte. Immer noch besaß das kantige, fast knochige Gesicht mit dem markanten Kinn und den hohen Wangen etwas Energisches. Doch die dunklen Ränder um seine Augen und tiefe Falten an Mund und Wangen erinnerten eher an einen alten Mann als an einen Vierzigjährigen. Die ehemals dichten dunkelblonden Haare wurden von Jahr zu Jahr weniger und gaben immer mehr von seiner Stirn preis. Einen nicht unerheblichen Teil seines blassen Gesichts überzog eine Mischung aus gräulichen und schwarzen Bartstoppeln.
    Zum Rasieren oder Duschen blieb keine Zeit. Mit einem frischen T-Shirt unter dem Wollmantel und einer dunkelblauen Dockarbeitermütze auf dem Kopf trat Treidler kaum zehn Minuten später vor das triste Mehrfamilienhaus.
    Seine kurzfristige Tatkraft verflog sofort. Am liebsten wäre er gleich wieder umgekehrt. Daran hatte er nicht gedacht, als er vorhin die Fahrbereitschaft ausschlug: Sein Auto war von einer gut zehn Zentimeter dicken Schneeschicht bedeckt. Und natürlich verfügte er weder über einen Besen, um den Schnee von seinem 190er-Mercedes abzukehren, noch nannte er einen Eiskratzer sein Eigen. Fluchend machte er sich daran, die Schneemassen mit dem Arm vom Dach zu schieben. Bereits beim dritten Mal spürte er eine eisige Masse, die sich im Ärmel des Mantels ausbreitete. Kurze Zeit später, die Kälte ließ die Hände schon steif werden, konnte er zwar die Scheiben rundum erkennen, doch eine dicke Eisschicht machte es unmöglich loszufahren. So dauerte es nochmals einige Minuten, in denen Treidler bei laufendem Motor ausharrte. Erst danach hatte es das Heizgebläse des Mercedes geschafft, ein zwanzig Zentimeter großes Guckloch in das Eis auf der Frontscheibe zu tauen.
    Der allmorgendliche Berufsverkehr in der Stadt strebte seinem Höhepunkt entgegen. Lastwagen, Busse und Autos quälten sich auf der eisglatten Fahrbahn im Schritttempo in eine Richtung – dummerweise genau in die, in die auch Treidler wollte. Er verwünschte all die Rentner, die jetzt schon die Straße verstopften, obwohl sie den ganzen Tag für ihre Besorgungen Zeit gehabt hätten. Vor allen Dingen verfluchte er die Eltern, die bei diesen Verkehrsverhältnissen ihre Kinder – anscheinend jedes einzeln – in die Schule brachten. Und dass er mit seiner Vermutung richtiglag, bestätigte der Blick in die meisten Fahrzeuge: ein Erwachsener vorn und ein Kind auf der Rücksitzbank. Erst weit nach dem Schulzentrum ging es entspannter voran. Allerdings nicht wirklich flott. Die Schneemassen überforderten den Räumdienst der Straßenwacht seit Wochen. Am Straßenrand türmte sich der Schnee zwischen den parkenden Autos und reichte oft bis in die Fahrbahn hinein. Dieses Jahr hatte es schon Ende Oktober zu schneien begonnen. Die tiefen Temperaturen sorgten dafür, dass es nicht taute. Wo blieb eigentlich diese Klimaerwärmung, die sämtliche Medien seit Jahrzehnten verkündeten? Es klang für ihn wie der endlose Sprechgesang von Klostermönchen. Für die letzten fünf Winter traf eher das Gegenteil zu. Die sollten alle nach Süddeutschland kommen. Denn hier gab es tonnenweise Eis und Schnee. Und gegen ein paar Grad mehr hatte er nichts einzuwenden.
    Nach einer Viertelstunde Fahrt durch die tief verschneite Landschaft bog Treidler auf die Kreisstraße nach Florheim ein. Schon vor dem Ortseingang bemerkte er die Besonderheit dieses Tages. Jeder Fremde fände problemlos den Weg zur Bushaltestelle, denn er musste nur den anderen Autos folgen, die sich wie in einer Karawane vorwärtsschoben. Offenbar funktionierten die Buschtrommeln hier besonders gut.
    Treidler ließ sich ebenfalls Richtung Ortsmitte spülen, wo er Haltestelle und Tatort vermutete. Er wechselte auf die linke Spur und fuhr im Schritttempo an der Fahrzeugschlange vorbei. Giftige Blicke begleiteten sein Überholmanöver. Auch hier ging es bald nicht mehr weiter. Ein Pulk von Menschen versperrte den Weg. Einigen sah er an, dass sie keine Zeit gefunden hatten, sich etwas Vernünftiges anzuziehen. Sie lümmelten in Jogginghosen und Hausschuhen in der Gegend herum. Es mussten Dutzende sein, die sich die Beine in den Bauch standen.
    Glücklicherweise hatten die Kollegen der Streifenpolizei den Bereich mit einem rot-weißen Plastikband abgesperrt. Treidler fackelte nicht lange, stellte sein Auto direkt davor ab und stieg aus. Ein uniformierter Beamter kam auf ihn zu und wollte mit erhobener Hand und grimmigem Gesichtsausdruck seinem Vorankommen Einhalt gebieten. Plötzlich stoppte der
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