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Schwarzer Mittwoch

Schwarzer Mittwoch

Titel: Schwarzer Mittwoch
Autoren: Nicci French
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sind damit beschäftigt, Beweismaterial zu sammeln. Die Theorien kommen später.«
    Bradshaw schüttelte wieder den Kopf. »Das ist die falsche Reihenfolge. Ohne Theorie ergeben die gesammelten Fakten nur ein wirres Durcheinander. Man sollte stets offen sein für erste Eindrücke.«
    »Was ist denn Ihr erster Eindruck?«
    »Ich liefere Ihnen einen schriftlichen Bericht«, entgegnete Bradshaw, »aber Sie können gerne eine kostenlose Vorschau haben: Ein Einbruch ist nicht nur ein Einbruch.«
    »Das müssen Sie mir genauer erklären.«
    Bradshaw machte eine ausladende Handbewegung.
    »Sehen Sie sich doch um. Ein Einbruch ist ein gewaltsames Eindringen in einen geschützten Raum, eine Grenzübertretung, um nicht zu sagen eine Vergewaltigung. Dieser Mann hat seine Wut zum Ausdruck gebracht – seine Wut auf einen ganzen Lebensbereich, der ihm verschlossen blieb, geprägt von Besitz, familiären Bindungen und gesellschaftlichem Status. Und als er dann auf diese Frau traf, sah er in ihr die Personifizierung all dessen, was er nicht haben konnte: Sie war zugleich eine gut situierte Frau, eine begehrenswerte Frau, eine Mutter und eine Ehefrau. Er hätte einfach die Flucht ergreifen oder sie mit einem leichteren Schlag außer Gefecht setzen können, aber stattdessen hinterließ er uns eine Nachricht – und ihr auch. Die Verletzungen wurden in erster Linie ihrem Gesicht zugefügt und nicht so sehr dem restlichen Körper. Sehen Sie sich die Blutspritzer an der Wand an. Das steht in keinem Verhältnis zu dem, was die Situation erforderte. Er hat im wahrsten Sinn des Wortes versucht, dieser Frau einen bestimmten Ausdruck aus dem Gesicht zu schlagen, einen Ausdruck der Überlegenheit. Er hat den Raum mit ihrem Blut neu gestaltet. Auf eine fast schon liebevolle Weise.«
    »Eine seltsame Art von Liebe«, bemerkte Karlsson.
    »Genau deswegen musste das Ganze so heftig ausfallen«, erklärte Bradshaw. »Hätte es ihm nichts bedeutet, so hätte er nichts derartig Extremes tun müssen. Es wäre nicht so wichtig gewesen. Das hier hat eine emotionale Intensität.«
    »Nach welchem Tätertyp sollen wir demnach Ausschau halten?«
    Bevor Bradshaw antwortete, schloss er die Augen, als sähe er jemanden, den außer ihm niemand sehen konnte.
    »Nach einem Weißen«, sagte er. »Anfang bis Mitte dreißig. Kräftig gebaut. Unverheiratet. Ohne festen Wohnsitz. Ohne festen Job, ohne feste Beziehung. Ohne familiäre Bindungen.«
    Bradshaw zückte sein Handy und hielt es in verschiedene Richtungen.
    »Sie müssen vorsichtig sein mit solchen Fotos«, warnte ihn Karlsson. »Auf wundersame Weise landet so was gern online.«
    »Ich darf das«, konterte Bradshaw. »Sie sollten mal einen Blick in meinen Vertrag werfen. Ich bin Kriminalpsychologe. Das gehört zu meinem Job.«
    »Schon gut«, antwortete Karlsson. »Trotzdem bin ich der Meinung, dass wir jetzt gehen sollten, damit die Spurensicherung übernehmen kann.«
    Bradshaw steckte das Handy zurück in seine Jackentasche.
    »Kein Problem, ich bin fertig. Ach, übrigens, richten Sie Doktor Klein meine besten Wünsche aus. Sagen Sie ihr, dass ich oft an sie gedacht habe.«
    Auf dem Weg nach draußen begegneten sie Louise Weller, die gerade wieder hereinkam. Das Baby trug sie immer noch vor der Brust, hielt nun aber zusätzlich einen kleinen Jungen an der Hand. Hinter ihnen trottete ein nur wenig älteres Mädchen her, das die gleiche stämmige Statur aufwies wie die Mutter. Obwohl die Kleine ein rosa Nachthemd trug und einen Spielzeugkinderwagen mit einer warm verpackten Puppe vor sich her schob, erinnerte sie Karlsson irgendwie an Yvette.
    Louise Weller bedachte ihn mit einem knappen Nicken. »Familien sollten in solchen Zeiten eng zusammenrücken«, verkündete sie. Wie ein General, gefolgt von einer widerstrebenden Armee, ließ sie ihre Kinder ins Haus marschieren.

3
    U m drei Uhr fünfundzwanzig morgens, als es nicht mehr Nacht, aber auch noch nicht Tag war, wachte Frieda Klein auf. Ihr Herz raste, und ihr Mund fühlte sich trocken an. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Es fiel ihr schwer zu schlucken, ja sogar zu atmen. Alles tat ihr weh: die Beine, die Schultern, die Rippen, das Gesicht. Alte Blutergüsse pochten wieder. Ein paar Sekunden lang war sie unfähig, die Augen zu öffnen. Als sie es schließlich doch schaffte, drückte die Dunkelheit sie nieder und breitete sich in alle Richtungen aus. Frieda wandte den Kopf zum Fenster. Sie wartete auf den Mittwoch – auf das Tageslicht, das
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