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Schwarz auf Rot

Schwarz auf Rot

Titel: Schwarz auf Rot
Autoren: Qiu Xiaolong
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Volkszeitung tat das. Sie war, wie die Zeitung erklärte, eine Fehlentsche i dung des Vorsitzenden Mao gewesen, der in bester A b sicht gehandelt hatte. Die Grausamkeiten, die in diesem Zusammenhang begangen worden waren, glichen der nationalen Leiche im Keller.
    Das Wissen um diese Leiche im eigenen Land war e i ne Sache, eine andere aber war es, wenn man sie vor den Augen des Westens aus dem Keller zerrte. Daher wurde Yin von ihren Kritikern in der Partei als »Dissidentin« gebrandmarkt, ein Wort mit geradezu magischer Wi r kung. Der Roman galt daraufhin als gezielter Angriff auf die Parte i spitze und wurde schließlich verboten. Um die Autorin in Mißkredit zu bringen, wurden ihre Aktivitäten als Rotgardistin in Rezensionen und Rückblicken »en t larvt«. Es war ein Kampf, den sie nicht gewinnen konnte, und sie verfiel in Schweigen.
    All dies lag nun Jahre zurück, und ihr Roman enthielt zu viele spezifische Details, als daß er im Ausland das Interesse eines größeren Publikums hätte erregen können. Sie hatte auch nichts weiter veröffentlicht, abgesehen von einer Sammlung mit Yangs Gedichten, die sie mit h e rausgab. Dann wurde sie in den Chinesischen Schriftste l lerverband aufgenommen, was als Zeichen des Einle n kens von Seiten der Regierung gedeutet wurde. Im ve r gangenen Jahr schließlich war ihr ein Aufenthalt als Gastschriftstellerin in Hongkong gewährt worden. Dort hatte sie sich, wie der Akte zu entnehmen war, in keiner Weise auffällig benommen.
    Yu klappte den Ordner zu. Er sah nicht, inwiefern die Regierung mit dem Mord in Verbindung gebracht we r den konnte. Gleichwohl leuchtete ihm ein, daß die Parte i spitze den Fall so schnell wie möglich geklärt haben wollte. Alles, was mit regimekritischen Schriftstellern zu tun hatte, erregte Aufsehen – unliebsames Aufsehen, in China wie im Ausland.
    Als der Bus endlich die entsprechende Haltestelle e r reicht hatte, stellte Yu fest, daß die Schatzgartengasse, in der Yin gewohnt hatte, nur einen halben Block entfernt lag. Es war eine altmodische Gasse, die man durch ein schmiedeeisernes Gitter betrat, offenbar ein Relikt aus den Jahren der französischen Konzession. Die Wohng e gend war wenig attraktiv und in den letzten Jahren zie m lich heruntergekommen. In der Umgebung waren neue Gebäude entstanden, und die Gasse wirkte schon fast wie ein Schandfleck.
    Yu beschloß, zunächst einmal einen Spaziergang durch das Viertel zu machen. Er würde mit einem Nac h barschaftspolizisten, dem Alten Liang, zusammenarbe i ten, der seit vielen Jahren dieses Revier betreute. Sie wollten sich um halb zehn im Büro des Nachbarschaft s komitees treffen, das am Hintereingang der Gasse lag. Bis dahin hatte er noch eine Viertelstunde Zeit.
    Nach vorne ging die Gasse auf die Jinling Lu hinaus. An der Kreuzung Jinling und Fujian Lu, zwei bis drei Blocks entfernt, konnte er das Zhonghui Mansion sehen, ein Hochhaus, das einst dem großen Bruder Du von der Blauen Triade gehört hatte. Der rückwärtige Ausgang der Gasse führte auf einen großen Obst-und Gemüsemarkt. Außerdem gab es zwei Zugänge zur Fujian Lu, die von kleinen Läden und Ständen flankiert waren, weitere A b zweigungen führten in ein Gewirr kleiner Gäßchen. Die meisten Häuser hier waren, wie sein eigenes Heim, im shikumen-Stil gebaut, also für Shanghai typische zwe i stöckige Gebäude mit steinernen Türeinfassungen und kleinen Innenhöfen.
    Als er vom Vordereingang aus in die Gasse blickte, bemerkte Yu eine ältere Frau, die mit einer Hand die schwarzlackierte Tür eines shikumen-Hauses aufstieß, in der anderen hielt sie einen Nachttopf. Es war ein unang e nehm vertrauter Anblick, er fühlte sich in seine eigene Gasse versetzt, nur daß die Schatzgartengasse mit ihren verzweigten Nebengäßchen noch um einiges schäbiger war. Und außerdem geräuschvoller. Nahe dem Vorde r eingang bot ein fliegender Händler lautstark seine Lauchpfannkuchen an, indem er mit einer metallenen Backschaufel gegen den großen flachen Wok schlug. Ein kleines Mädchen stand mutterseelenallein und bitterlich weinend inmitten der Gasse; den Grund ihrer Verzwei f lung würde Yu nie erfahren. Es würde nicht einfach we r den, hier zu ermitteln, dachte er. In dem ständigen Me n schenfluß und bei den vielfältigen Aktivitäten in der Ga s se konnte ein Verbrecher unbemerkt auftauchen und wieder verschwinden.
    Yu wandte sich dem Büro des Nachbarschaftskom i tees zu u nd sah einen kleinen, weißhaarigen Mann aus der Tür
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