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Schwaben-Rache

Schwaben-Rache

Titel: Schwaben-Rache
Autoren: Klaus Wanninger
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nicht mehr lebendig«, war ihre Antwort gewesen, »du hast sie genauso vergessen wie deine Mutter. Beide existieren für dich nicht mehr. Warum auch, ohne mich ist es doch viel bequemer.«
    »Mama«, hatte er gefleht, »bitte lass das.«
    Doch seine Mutter hatte nicht aufhören können mit ihren endlosen Vorwürfen.
    Irgendwann hatte er aufgelegt, wieder mitten in ihren inzwischen serbokroatisch vorgetragenen Beschimpfungen, war jedoch nur mit Mühe eingeschlafen, weil er sich selbst über sein Versäumnis ärgerte. Er hatte seine Schwester geliebt, innig und über alle Maßen, war sie zeitweise doch eine Art Mutterersatz für ihn gewesen, auch wenn sie nur drei Jahre vor ihm geboren worden war. Sie hatte ihm bei den Schularbeiten geholfen, seine Hefte kontrolliert, die Kleidung überprüft und gewaschen, ihn vor allzu aggressiven Mitschülern beschützt, ja, sogar als Ersatz für die des Deutschen damals kaum mächtige Mutter seine Lehrer befragt und wiederholt deren strenge Notengebung kritisiert. Durch die lange, arbeitsbedingte Abwesenheit der Mutter war Braigs Schwester früh gezwungen gewesen, auf eigenen Beinen zu stehen, und trotzdem hatte sie sich rührend um ihren jüngeren Bruder gekümmert. Streit hatte es selten gegeben: Sie hatte sich um alle wichtigen Angelegenheiten gekümmert, er dagegen ohne jede Gegenwehr die wenigen Arbeiten übernommen, die sie ihm auferlegte: Geschirr spülen etwa, Schuhe putzen oder den Boden kehren.
    Sie waren zusammen aufgewachsen, in einer kleinen Wohnung im Erdgeschoss an einer vielbefahrenen Straße. Zwei kleine Zimmer, eine winzige Küche, Bad und Toilette auf dem Flur. Der Besuch des Gymnasiums war seiner Schwester erspart geblieben, weil sie darauf gedrängt hatte, möglichst bald Geld zu verdienen, damit die Familie in ein besseres Viertel würde umziehen können.
    Sie hatte in einem Salon in der Nähe des Mannheimer Wasserturms eine Ausbildung zur Friseurin gemacht, war geduldig und fleißig und bald so beliebt gewesen, dass ihr eines Tages die Übernahme des Geschäfts angeboten worden war. Innerhalb weniger Jahre hatte sie den Meisterbrief erworben, war selbständige Unternehmerin geworden und hatte doch wenig Glück in ihrem kurzen Leben gehabt: ständig wechselnde Männerbeziehungen, finanzielle Sorgen durch unseriöse Berater und dann die Krankheit, die zu spät entdeckt und von verschiedenen Ärzten nie richtig behandelt worden war: Lungenkrebs, der längst Metastasen gebildet und im ganzen Körper verteilt hatte. Zwei Jahre lang war sie von Klinik zu Klinik geirrt, jede Methode, die irgendwo als letzte Hoffnung angepriesen wurde, auf ihre angebliche Wunderwirkung überprüfend, für Tage neu aufblühend, scheinbar tatsächlich geheilt, Wochen später jedoch umso kränker, schließlich vollkommen ermattet und vom Krebs zerfressen.
    Die letzten Monate hatte die Sterbende zu Hause verbracht, in der kleinen Eigentumswohnung, die sich die Familie hatte leisten können, gehegt und gepflegt von Mutter und Bruder, vor sich hin dämmernd, nur mit Schmerzmitteln die Schmerzen ertragend, dann meist ohne Bewusstsein, zuletzt nur noch sterbende Hülle, zerfressener Körper. Steffen Braig wusste, dass er diese Wochen nie vergessen, seine Schwester niemals aus seinem Gedächtnis verbannen würde. Deswegen schmerzten ihn die Vorwürfe seiner Mutter umso mehr.
    Er hatte den Geburtstag im Trubel der Ermittlungen vergessen – ein Fehler, den wiedergutzumachen er sich bemühen würde. In seinem Herzen blieb sie lebendig, das war das Einzige, was wirklich zählte, so schwülstig dieser Gedanke vordergründig auch klang. Braig nahm sich vor, seine Mutter am Wochenende zu besuchen, zwei große Blumensträuße mitzubringen und allen Groll auf sie zu Hause zu lassen, auch wenn es ihn Überwindung kosten würde. Sie hatte ein hartes Leben hinter sich und konnte vielleicht nicht anders reagieren. Braig fühlte sich als ihr einziger Sohn verpflichtet, ihr Verhalten zu akzeptieren und es ihr nachzusehen.
    Steffen Braig fuhr sich mit den Fingerspitzen über die Stirn und massierte seine Schläfen, um sich von den Schmerzen in seinem Kopf zu befreien. Wieder einmal überkamen ihn Zweifel: Vielleicht hatte seine Mutter recht, vielleicht war es wirklich seine Pflicht, zu ihr zurückzukehren, sich mehr um sie zu kümmern, so wie sie sich jahrelang um ihn gekümmert hatte. Er konnte sich wieder nach Mannheim versetzen lassen, immerhin hatte er gute Arbeit dort geleistet und war jederzeit
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