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Schumacher, Jens - Deep

Schumacher, Jens - Deep

Titel: Schumacher, Jens - Deep
Autoren: Jens Schumacher
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ihm. »Die unterste Terrasse, der sogenannte Sockel, wird von Buddhisten Kamadathu genannt, ›Sphäre der Weltlichkeit‹. Archäologen nennen ihn auch den verborgenen Fuß, da er von den Erschaffern des Tempels aus statischen Gründen noch vor Beendigung der Bauarbeiten eingemauert und mit Erde aufgeschüttet wurde, zusammen mit rund 160 religiösen Reliefs, die ihn schmücken. Diese Bilder wurden erst im Zuge von Renovierungsarbeiten in den 1970er-Jahren teilweise wieder freigelegt.«
    »Was bedeutet ›aus statischen Gründend«, wollte eine dicke Amerikanerin mit einer absurd großen Sonnenbrille und grellrot geschminkten Lippen wissen.
    »Die Mauern hätten das immense Gewicht der höheren Terrassen nicht ausgehalten. Sie wären seitlich weggedrückt worden«, erklärte der Fremdenführer.
    Die Frau kicherte. »Wie bei einer Schichttorte! Wenn man zu viele Lagen drauf tut, werden die unteren zermatscht.«
    Henry unterdrückte ein erneutes Grinsen und trat hinter der Gruppe auf die erste von insgesamt sechs quadratischen Galerien hinaus. Nach außen wurde sie von einer Mauer begrenzt, deren Rand glockenförmige Zinnen und sitzende Buddhastatuen zierten. Sie war, genau wie die Innenmauer, über und über mit steinernen Reliefs bedeckt.
    »Wir befinden uns jetzt in Rupadathu, der ›Sphäre der Formen‹«, fuhr der Texaner fort, während er langsam die Galerie entlangschritt. »Die Bilderkorridore dieses Abschnitts ziehen sich auf einer Länge von über zweieinhalb Kilometern bis zum oberen Teil des Tempels. Zählt man beide Seiten der Wandelgänge zusammen, kommt man auf über fünf Kilometer steinerner Basreliefs. Insgesamt gibt es 1460 erzählende und 1212 ornamentale Paneele. Alle berichten vom Leben Buddhas: von seiner Geburt, seinem mühevollen Weg zur Wahrheit bis zu seiner Erleuchtung, seinem Ableben und dem Erreichen des Nirvana, des Zustands höchster Glückseligkeit …«
    »Von wegen Glückseligkeit«, schnaubte ein Mann, der mindestens zweihundert Kilo wiegen musste, und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der knallroten Stirn. »Bei dieser Hitze zweieinhalb Kilometer immer im Kreis laufen … Ich hoffe, auf der Spitze dieses Steinhaufens wird nachher ein Imbiss angeboten!«
    Henry folgte der Gruppe in unauffälligem Abstand, wobei er interessiert die Abbildungen auf beiden Seiten der Galerie betrachtete. Es gab Szenen mit Soldaten, Königen, Kindern, Elefanten und vielem mehr. Manche spielten im Innern von Tempeln, andere unter freiem Himmel. Die Mehrzahl der Reliefs war erstaunlich gut erhalten, aber Henry erinnerte sich, dass sein Vater in einer Mail etwas von aufwendigen Restaurierungsarbeiten in der Vergangenheit erwähnt hatte.
    Im Hintergrund ratterte der Texaner mit sonorer Stimme Episoden aus dem Leben Buddhas herunter. Henry hörte nicht mehr zu. Er war nicht gekommen, um etwas über Religion zu lernen, außerdem sahen die Reliefs nach einer Weile alle gleich aus. Die einzige Abwechslung bildeten die Fratzen von Wasserspeiern, die in regelmäßigen Abständen aus den Wänden höher gelegener Galerien hervorragten. Sie waren den Köpfen von Seeungeheuern nachempfunden und mussten einst dazu gedient haben, gesammeltes Regenwasser nach unten abzuleiten.
    Zwanzig Minuten später hatte es die amerikanische Reisegruppe gerade einmal geschafft, sich zur Hälfte um die erste Tempelterrasse vorzuarbeiten. Bei diesem Tempo würde die Dämmerung hereinbrechen, bevor sie Arupadathu erreichten, die »Sphäre des reinen Geistes«, wie der Fremdenführer sie nannte.
    Henry überlegte gerade, ob er sich wieder auf den Weg nach unten machen sollte – Pelham wartete am Fuß der Pyramide gewiss schon auf ihn –, als der Texaner von einer riesenhaften Buddha-Statue zu erzählen begann, die auf der Spitze der Pyramide thronen sollte. Auch in den Mails von Henrys Vater war von einem großen Steinbuddha die Rede gewesen. Demnach befanden er und seine Kollegen sich auf der Spitze des Tempels.
    Als die Reisegruppe den Treppenaufgang auf der Westseite erreichte, nutzte Henry die Gelegenheit, bog ab und eilte mit langen Sätzen die schiefen, von dunklen Flechten überwucherten Stufen hinauf.
    Wenige Minuten später lagen fünf Terrassen unter ihm. Als er das obere Ende der Treppe erreichte, war er nur leicht außer Atem, dafür rann ihm der Schweiß in Strömen über Gesicht und Rücken. In Yogyakarta war es achtundzwanzig Grad warm gewesen, keine unübliche Temperatur für diese Jahreszeit, und auf
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