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Schumacher, Jens - Deep

Schumacher, Jens - Deep

Titel: Schumacher, Jens - Deep
Autoren: Jens Schumacher
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zum …?«, keuchte Rudd.
    Als hätte das mysteriöse Objekt seine Worte gehört, löste es sich vom Glas und glitt gedankenschnell zur Seite weg. Übrig blieb nur die finstere Augenhöhle eines U-Boot-Fensters.
    Sekundenlang herrschte fassungslose Stille auf dem Deck der Athos. Irgendwann holte Thomas Irving tief Luft. »Hast du das gesehen?«
    »Bin ja nicht blind, Mann. Was war das, verdammte Kacke?«
    Irving schwieg lange. Sein Blick blieb auf das Bild der Unterwasserkamera geheftet. »Ich bin kein Meeresbiologe, aber wenn das ein Fisch war, zählt Moby Dick ab sofort zur Gattung der Murmeltiere.«
    Neben ihm versuchte Jeff Rudd, den Kloß hinunterzuschlucken, der sich in seinem Hals gebildet hatte. Seine verstörte Miene verriet, dass er dasselbe gesehen hatte wie sein Partner.
    Das zerfurchte Objekt auf der anderen Seite des Glases hatte eine erschreckende Ähnlichkeit mit einem von Verwesung und Salzwasser entstellten menschlichen Gesicht gehabt.

1
     
    BOROBUDUR, 22. SEPTEMBER 2013
     
    Der Tempel war riesig. Das war das Erste, was Henry Wilkins durch den Kopf schoss, als der Land Rover eine Kurve umrundete und sich ihm zum ersten Mal ein Blick auf »das achte Weltwunder« bot, wie sein Reiseführer die berühmte religiöse Besinnungsstätte genannt hatte.
    Aus der Ferne erinnerte der Borobudur an eine Festung aus einem aufwendig produzierten Fantasy-Film: In terrassenartigen Stufen reckte sich grauer Stein über eine Breite von mehr als hundert Metern turmhoch in den strahlend blauen Himmel, jede Etage geschmückt mit Vorsprüngen, Spitzen, Portalen und Statuen. Die Vielfalt an Details wirkte auf den ersten Blick chaotisch, ein Meer aus Ecken und Kanten, so weit das Auge reichte.
    Der Anblick war zugleich faszinierend und verwirrend. Henry hatte an der Seite seines Vaters, des Anthropologen Dr. Donald Wilkins, schon religiöse Kultstätten auf der ganzen Welt besucht, aber weder die unterirdischen Opfergrotten, die sein Vater in Südafrika entdeckt hatte, noch die lianenüberwucherten Steinhütten, auf die sie vor Jahren im dichten Dschungel des Amazonas gestoßen waren, konnten es mit dem Borobudur aufnehmen. Henry erinnerte sich lediglich an eine einzige Sorte uralter Bauwerke, die noch rätselhafter und verstörender, noch Ehrfurcht gebietender auf ihn gewirkt hatten. Aber an die mochte er im Augenblick lieber nicht denken.
    Lautes Hupen riss ihn aus seinen Gedanken. »Herrje, nun schaff schon deinen Schrotthaufen von der Straße!«
    Henry drehte den Kopf in Richtung Fahrersitz, wo Dr. Pelham sich mit schweißüberströmtem Gesicht mühte, den Jeep ohne größere Beschädigungen durch die endlose Masse aus qualmendem, stinkendem und hupendem Blech zu steuern, die seit ihrem Aufbruch von Yogyakarta die Landstraße verstopfte.
    »Man sollte auf Java eine TÜV-Pflicht einführen!« Kopfschüttelnd deutete Pelham auf einen gut vierzig Jahre alten Passagierbus, der im Schneckentempo vor ihnen hertuckerte und aus nicht viel mehr als vier Rädern und viel Rost zu bestehen schien. »Dann würden mit einem Schlag neunzig Prozent dieser Wracks von den Straßen verschwinden.« Er zwinkerte Henry zu. »Oder vielleicht hundert?«
    Henry musste grinsen. Die Vorstellung, die schlecht gepflasterte Straße ganz für sich allein zu haben, war tatsächlich verlockend.
    Dr. Michael Pelham war Archäologe und wie Donald Wilkins Dozent an der Universität von Toronto. Der drahtige Enddreißiger mit der John-Lennon-Sonnenbrille und dem dichten Oberlippenbart hatte Henry am Vormittag am Flughafen von Yogyakarta abgeholt. Obwohl Henry mit seinen sechzehn Jahren bereits alle fünf Erdteile bereist hatte und in fremden Ländern normalerweise gut zurechtkam, war er doch erleichtert gewesen, als über den Köpfen der hektisch brodelnden Menschenmenge am Hauptterminal plötzlich ein Pappschild mit seinem Namen aufgetaucht war. Der Mann, der darunter zum Vorschein kam, wirkte auf den ersten Blick wie ein wandelndes Klischee: beigefarbenes Safarihemd, knielange Cargohosen und hohe Schnürstiefel, dazu ein breiter Sonnenhut – das Abziehbild eines Forschers, der in südlichen Gefilden unterwegs ist. Wie sich jedoch rasch herausstellte, war Michael Pelham ein umgänglicher und humorvoller Typ. Henry fühlte sich in seiner Gegenwart sofort wohl.
    Pelham hatte ihn zu einem offenen Land Rover geführt, der fraglos schon bessere Zeiten gesehen hatte, im Gegensatz zu den meisten Fahrzeugen Javas aber zumindest äußerlich noch fahrtüchtig
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