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Schuldlos ohne Schuld

Schuldlos ohne Schuld

Titel: Schuldlos ohne Schuld
Autoren: Kjell-Olof Bornemark
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Er hofft, alles wäre ein Traum, den er in der gleichen Weise beseitigen kann, wie er daheim den Fernsehapparat ausschaltet, wenn ihn die Liebesszenen zu ekeln beginnen. Es ist kein Traum. Als er die Augen wieder öffnet, küssen sie sich immer noch, und die Dame dreht sich ein wenig, als ob der Griff über der Brust zu grob ist. Dann macht sie sich frei und schiebt den Jungen weg, während sie ihm die Wange tätschelt.
    Sie versuchen sich so zu verhalten, als ob Martin nicht vorhanden wäre. Als wäre es ihnen vielmehr gelungen, ihn aus der Wirklichkeit zu beseitigen. Aber das ist eine Täuschung. Martin weiß, dass sie sich nur verstellen. Er kann sehen, wie ihn die Dame aus dem Augenwinkel beobachtet, und er begreift, dass die Röte auf ihren Wangen nicht von Verlegenheit herrührt, sondern von Befriedigung. Sie hat jemanden gefunden, der schwächer ist als sie selbst. Der Junge hat nicht wirklich dasselbe Bedürfnis. Noch nicht. Er richtet sich auf und blickt zufrieden umher. Er wollte seine Männlichkeit demonstrieren. Was Martin denkt und meint, ist ihm egal. Das ist jedenfalls der Eindruck, den er erwecken will.
    Martin verträgt keine Beleidigungen. Ihm zu sagen, dass er Unsinn redet, ist eine Beleidigung. Er ist beinahe so alt, dass er der Vater des Jungen sein könnte. Aber nicht der der Dame. Sie ist älter, als sie aussieht. Eigentlich ist sie keine Dame, sondern eine Hure. Jedenfalls gelegentlich. Eine Wochenendhure. Das hat Martin die ganze Zeit gewusst. Das wissen auch all die anderen, die hier sitzen. Sie tun nur so, als wüssten sie es nicht.
    Warum soll er alles hinnehmen? Martin kümmert sich nicht darum, dass alle auf ihn starren. Vielleicht spricht er manchmal laut vor sich hin. Na und? Er hat es nie selber gehört, es ist ihm egal. Er hat dasselbe Recht hier zu sitzen wie alle anderen. Er hat dasselbe Recht, Mensch zu sein wie sie. Hat er das nicht? Es gibt immer jemanden, der ihm dieses Recht streitig machen möchte. Solche Menschen müssen bekämpft werden. Sie müssen niedergemacht werden.
    Mit seiner kräftigen Faust fegt Martin das Bierglas vor sich weg. Es landet klirrend an der Wand, und das Bier rinnt an seiner Hose herab.
    Das war keine Absicht. Plötzlich ist es totenstill im Lokal, und alle starren ihn an. Martin rutscht hin und her und lächelt albern. Dann beugt er sich unter den Tisch und beginnt die Glasscherben aufzusammeln. Es ist doch nicht das erste Mal, dass jemand hier in der Kneipe ein Bierglas umgekippt hat.
    Als Martin sich aufrichtet, steht der Wirt am Tisch und sieht ihm starr in die Augen. Es ist ein Blick, vor dem Martin Respekt hat.
    »Jetzt reicht es«, sagt der Wirt im Befehlston, trotzdem aber nicht unfreundlich und ohne die Stimme zu heben.
    »Der ist nicht ganz bei Trost«, schreit der Junge. »Wie könnt ihr so einen reinlassen!«
    »Beruhige dich«, antwortet der Wirt und wendet sich dem Jungen zu, der sich gerade erheben will. Der Blick ist hart und zeigt, dass er keine Einwände zu dulden gedenkt.
    Der Junge gehorcht und legt stattdessen seinen drohenden Arm beschützend um die Dame, die nicht so aussieht, als müsste sie beschützt werden. Sie wirkt mehr amüsiert als erschreckt.
    »Martin!«, sagt der Wirt, und jetzt liegt etwas Entschlossenes und sehr Gebieterisches in seiner Stimme.
    Dagegen kann Martin nichts unternehmen. Wenn er Schwierigkeiten machen würde, riskiert er, Hausverbot zu erhalten. Es gibt viele, denen der Wirt Hausverbot erteilt hat und die keinen Zufluchtsort haben, wenn die Einsamkeit allzu bedrückend wird.
    Martin erhebt sich, und alle, die ihn kennen, wissen, dass es keine Möglichkeit mehr gibt, ein einziges Wort aus ihm herauszubekommen. Er ist ein großer Mann, kräftiger als die meisten. Daher gibt es niemanden, der ihn herausfordert. Es gibt im Gegenteil einige, die ihm freundlich zum Abschied zunicken, als er an ihnen vorbeigeht. Der Wirt begleitet ihn nicht mal zur Eingangstür. Er weiß, dass es unnötig ist. Stattdessen bleibt er am Tisch stehen und bringt den Jungen zum Schweigen, der wieder zeigen muss, wie männlich er sein kann. »Er ist doch verrückt«, schreit der Junge mit greller Stimme, und er will, dass alle ihn hören.
    Die allermeisten wenden ihren Blick ab, als missbilligten sie, was der Junge sagen will. Er hat genug Gespür, um zu merken, dass sie ihn nicht ernst nehmen, und er ist viel zu jung, um begreifen zu können.
    »Trotzdem spinnt er«, murmelt der Junge hauptsächlich zu sich selbst.
    »Nicht mehr
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