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Schrei in der Nacht

Titel: Schrei in der Nacht
Autoren: Mary Higgins Clark
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war, entspannte sich Hartley und zeigte sich von seiner gütigen Seite. Was er wohl sagen würde, wenn sie ihm schon jetzt eröffnete, daß sie nicht bis zum Ende des Empfangs bleiben konnte? »Lee ist gerade gekommen«, fuhr Jenny fort. Sie meinte ihren Teilzeitassistenten. »Es läuft also alles bestens.« Sie lächelte ihn an. »Und nun hören Sie bitte auf, sich Sorgen zu machen.«
    »Ich werd’s versuchen. Sagen Sie Lee, daß ich vor eins wieder da bin, um mit Krueger zu lunchen. Sie gehen am besten gleich und sehen zu, daß Sie etwas in den Magen bekommen.«
    Sie beobachtete, wie er mit flinken Schritten den Raum verließ. Momentan war gerade niemand in der Galerie.
    Sie wollte das Gemälde im Fenster in aller Ruhe betrachten. Ohne ihren Mantel anzuziehen, schlüpfte sie hinaus und blieb in einigem Abstand vom Schaufenster stehen, um das Werk gut überblicken zu können. Die Passanten machten nach einem kurzen Blick auf sie und das Bild rücksichtsvoll einen Bogen um sie.
    Die junge Frau auf dem Gemälde saß in einer Schaukel auf der Veranda und blickte zur untergehenden Sonne.
    Das Licht war gebrochen, rote, purpurne und malvenfarbene Töne. Die schlanke Gestalt war in ein dunkelgrünes Cape gehüllt. Feinste blauschwarze Haarsträhnen umspielten ihr Gesicht, das schon im Halbschatten lag. Ich sehe jetzt, was Hartley meint, dachte Jenny. Die hohe Stirn, die dichten Brauen und die großen Augen, die feine, gerade Nase und die vollen Lippen glichen ihren eigenen Zügen. Die Holzveranda war weiß lackiert und hatte einen zierlichen Eckpfosten.
    Die Backsteinmauer des Hauses im Hintergrund war nur angedeutet. Ein kleiner Junge, der sich scharf im Sonnenlicht abzeichnete, lief über ein Feld auf die Frau zu. Verharschter Schnee deutete die durchdringende Kälte der bevorstehenden Nacht an. Die Gestalt auf der Schaukel wirkte starr und hatte den Blick auf den Sonnenuntergang geheftet.
    Trotz des herbeieilenden Kindes, der vertrauenerweckenden Solidität des Hauses, der Weite der Landschaft kam es Jenny vor, als sei die Frau auf sonderbare Weise einsam oder isoliert. Warum?
    Vielleicht lag es an dem traurigen Ausdruck ihrer Augen.

    Oder war es nur, weil das ganze Bild bittere Kälte heraufbeschwor? Wieso saß sie bei dieser Kälte draußen?
    Warum betrachtete sie den Sonnenuntergang nicht von einem Fenster aus?
    Jenny erschauerte. Ihr Rollkragenpullover war ein Weihnachtsgeschenk von ihrem Ex-Mann Kevin. Er war Heiligabend überraschend aufgekreuzt, mit dem Pulli für sie und Puppen für die Mädchen. Kein Wort über die Tatsache, daß er nie Unterhaltszahlungen überwies und ihr sogar noch über zweihundert Dollar schuldete, die sie ihm gepumpt hatte. Der Pullover war billig und wärmte so gut wie gar nicht. Aber er war wenigstens neu, und die Türkisfarbe war ein guter Fond für Nanas goldene Kette mit dem Medaillon. Ein Vorteil der Kunstwelt bestand natürlich darin, daß die Leute sich sehr unkonventionell kleideten, und ihr zu langer Wollrock und die zu weiten Stiefel waren nicht unbedingt ein Armutsgeständnis.
    Trotzdem sollte sie besser wieder hineingehen. Die Grippe, die gerade in New York grassierte, war das letzte, was sie jetzt brauchen konnte.
    Sie starrte wieder auf das Bild und bewunderte das Geschick, mit dem der Maler den Blick des Betrachters von der Gestalt auf der Veranda zu dem kleinen Jungen und dann auf den Sonnenuntergang richtete. »Wunderschön«, flüsterte sie. »Wirklich wunderschön.« Unbewußt trat sie einen Schritt zurück, während sie vor sich hin redete, glitt auf dem rutschigen Pflaster aus und fühlte, wie sie gegen jemanden fiel. Starke Arme hielten sie an den Ellbogen fest und richteten sie wieder auf.
    »Stehen Sie oft bei solchem Wetter ohne Mantel draußen und führen Selbstgespräche?« Aus der Stimme klangen Ärger und Belustigung zugleich.
    Jenny fuhr herum. Verwirrt stammelte sie: »Tut mir schrecklich leid, entschuldigen Sie bitte. Habe ich Ihnen weh getan?« Sie trat zurück und erkannte, daß sie das Gesicht betrachtete, das auf dem Umschlag des Katalogs war, den sie den ganzen Vormittag verteilt hatte. Großer Gott, dachte sie, daß ich ausgerechnet Erich Krueger anrempeln muß!
    Sie sah, wie er erbleichte, die Augen aufriß, die Lippen aufeinanderpreßte. Er ist wütend, dachte sie, zumindest pikiert. Ich habe ihn praktisch umgerannt. Zerknirscht streckte sie die Hand aus. »Es tut mir so leid, Mr.
    Krueger. Ich hoffe, Sie werden mir verzeihen. Ich hatte einfach
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