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Schrei in der Nacht

Titel: Schrei in der Nacht
Autoren: Mary Higgins Clark
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riß Jenny ›Freitag, 14. Februar‹ ab, knüllte die Seite zusammen und starrte auf die leere Fläche unter dem fettgedruckten Datum: ›Sonnabend, 15. Februar‹.
    Sie zuckte zusammen. Seit jenem Tag in der Galerie, als sie Erich kennengelernt hatte, waren fast vierzehn Monate vergangen. Nein, das konnte nicht sein. Da lag ein ganzes Leben dazwischen. Sie rieb sich die Stirn.
    Ihr kastanienbraunes Haar war während der Schwangerschaft beinahe schwarz geworden. Es fühlte sich stumpf und leblos an, als sie es unter die wollene Skimütze stopfte. Der Spiegel mit dem Perlmuttrahmen links von der Tür paßte eigentlich nicht in die altmodisch-gediegene Küche mit den Eichenbalken. Sie starrte hinein. Ihre Augen, normalerweise von einem Farbton irgendwo zwischen Aquamarin und Blau, starrten ihr ausdruckslos und mit geweiteten Pupillen entgegen. Sie hatte Ringe unter den Augen, und ihre Wangen waren eingesunken. Sie war seit der Geburt schrecklich abgemagert. Ihre Halsschlagader pulsierte, als sie den Reißverschluß des Skianzugs ganz zuzog.
    Siebenundzwanzig Jahre. Doch sie fand, daß sie mindestens zehn Jahre älter aussah, und sie fühlte sich hundert Jahre älter. Wenn nur diese Benommenheit weggehen würde. Wenn das Haus nur nicht so still, so beängstigend, erschreckend still wäre.
    Sie schaute zu dem gußeisernen Herd an der Ostwand der Küche. Die Wiege, nun mit Holz gefüllt, stand wieder daneben, war wieder zu etwas nütze.
    Sie zwang sich, die Wiege zu betrachten und den Schock zu verarbeiten, den sie immer spürte, sobald sie die Küche betrat. Dann griff sie nach der Thermosflasche und goß Kaffee hinein, holte den Kompaß, Hammer, die Stiftnägel und Scheuerlappen. Sie warf alles in einen Rucksack, schlang sich ihren Schal vors Gesicht, zog die Langlaufschuhe an, schlüpfte in fellgefütterte Fäustlinge und machte die Tür auf. — Der scharfe, peitschende Wind durchdrang den Schal im Nu. Das dumpfe Muhen der Kühe im Stall klang in Jennys Ohren wie das erschöpfte Schluchzen aus tiefstem Kummer. Die Sonne ging auf, wurde in ihrer rotgoldenen Schönheit grell vom Schnee zurückgeworfen, ein ferner Gott, der nichts gegen die bittere Kälte ausrichten konnte.
    Inzwischen machte Clyde sicher seinen ersten Gang durch den Kuhstall. Die Knechte gabelten Heu in die Raufen im Freien, um die schwarzen Angusrinder zu füttern, die unter dem harten Schnee nicht grasen konnten und dort gewohnheitsmäßig Schutz und Nahrung suchten. An die sechs Männer arbeiteten gerade auf dieser großen Farm, aber keiner war in der Nähe des Hauses; sie waren alle nur winzige dunkle Gestalten, wie Scherenschnitte vor dem Horizont.
    Die Langlaufskier standen neben der Küchentür. Jenny trug sie die sechs Verandastufen hinunter, warf sie hin, trat in die Bindungen und rastete sie ein. Gott sei Dank hatte sie letztes Jahr gut Ski laufen gelernt.

    Als sie anfing, die Hütte zu suchen, war es kurz nach sieben. Sie beschränkte sich darauf, in jeder Richtung höchstens dreißig Minuten zu laufen. Sie begann an dem Punkt, wo Erich immer im Wald verschwand. Die Zweige über ihr waren so dicht, daß die Sonne kaum durchdrang. Wenn sie in einer möglichst geraden Linie gelaufen war, bog sie nach rechts ab, legte noch etwa hundert Meter zurück, bog wieder nach rechts und lief zum Waldrand zurück. Der Wind verwehte ihre Spuren schon nach wenigen Metern, aber jedesmal, wenn sie die Richtung änderte, nagelte sie einen Lappen an einen Baum.
    Um elf kehrte sie zum Haus zurück, machte Suppe warm, zog trockene Socken an, zwang sich, den kribbelnden Schmerz in Kopf und Händen zu ignorieren, und lief wieder los.
    Um fünf, als die tiefen Strahlen der Sonne verblaßten, war sie, halb erfroren, drauf und dran, die Suche fürs erste aufzugeben, beschloß dann aber, noch eine weitere Kuppe zu untersuchen. Und da entdeckte Jenny sie plötzlich — die kleine rindengedeckte Blockhütte, die Erichs Urgroßvater 1869 gebaut hatte. Jenny starrte hin und biß sich auf die Lippen. Grausame Enttäuschung durchfuhr sie schneidend wie ein Stilett.
    Die Rouleaus waren geschlossen; die Hütte wirkte abweisend, als wäre sie lange nicht benutzt worden. Der Schornstein war schneebedeckt; kein Licht drang heraus.
    Hatte sie wirklich zu hoffen gewagt, dieser Schornstein würde rauchen, Licht durch die Vorhänge schimmern, und sie könnte einfach zur Tür gehen und aufmachen, wenn sie erst einmal vor der Hütte stand?
    An der Tür war ein Metallschild. Die
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