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Schrei in der Nacht

Titel: Schrei in der Nacht
Autoren: Mary Higgins Clark
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Buchstaben waren verblichen, aber noch lesbar: Zutritt verboten.

    Zuwiderhandelnde werden strafrechtlich verfolgt. Die Unterschrift lautete: Erich Fritz Krueger, das Datum: 1903.
    Links von der Hütte stand ein Pumpenhaus, eine Außentoilette, zur Hälfte von barmherzigen, dichten Fichten verborgen. Jenny versuchte, sich vorzustellen, wie der kleine Erich mit seiner Mutter hierhergekommen war. »Caroline liebte die Hütte, so wie sie war«, hatte Erich ihr erzählt. »Mein Vater hätte das alte Ding gern renoviert, aber sie wollte nichts davon wissen.«
    Der Kälte nicht mehr bewußt, lief Jenny zum nächsten Fenster. Sie griff in den Rucksack, nahm den Hammer heraus, holte aus und schlug die Scheibe ein. Scherben streiften ihre Wange. Sie spürte das Blut nicht, wie es über ihr Gesicht lief und gefror. Vorsichtig, um sich nicht an den scharfen Zacken zu verletzen, langte sie hinein, löste den Riegel und schob das Fenster hoch.
    Sie strampelte ihre Skier los, kletterte über das niedrige Sims, schob das Rouleau zur Seite und betrat die Hütte.
    Sie bestand aus einem einzigen Raum, etwa sechs Meter im Quadrat. Neben einem eisernen Kaminofen an der Nordwand war Holz gestapelt. Ein verschossener Orientteppich bedeckte den größten Teil der hellen Fichtendielen. Ein breites, samtbezogenes Sofa mit hoher Lehne und passende Sessel waren vor dem Ofen gruppiert. An den vorderen Fenstern stand ein langer Eichentisch mit zwei Bänken. Ein Spinnrad sah aus, als würde es noch funktionieren. Auf einer Anrichte aus massiver Eiche standen Petroleumlampen und Porzellan mit chinesischem Weidenmuster. Links führte eine steile Treppe hoch. Daneben waren reihenweise ungerahmte Bilder in Gestelle sortiert.
    Die Wände waren aus heller Fichte ohne Astlöcher, seidenglatt, mit Gemälden bedeckt. Wie benommen ging Jenny von einem zum anderen. Die Hütte war das reinste Museum! Nicht einmal das ungenügende Licht konnte die erlesene Schönheit der Ölbilder und Aquarelle, der Kohle- und Federzeichnungen mindern. Erich hatte noch nicht einmal angefangen, seine besten Arbeiten auszustellen. Sie fragte sich, wie die Kritiker reagieren würden, wenn sie erst diese Meisterwerke sahen.
    Einige der Bilder an der Wand waren bereits gerahmt.
    Das mußten die Arbeiten sein, die er als nächstes zeigen wollte. Eine Heuraufe im Schneesturm. Was war daran so anders? Eine Damhirschkuh, die mit geneigtem Kopf witterte, im Begriff, in den Wald zu fliehen. Ein Kalb, das sich nach der Mutter reckte. Blaue, erntereife Luzernefelder. Die Kongregationalistenkirche mit herbeieilenden Gläubigen. Die Hauptstraße von Granite Place, scheinbar unberührt vom Lauf der Zeit.
    Die ruhige Schönheit der Sammlung schenkte Jenny bei aller Verzagtheit kurz ein Gefühl von Frieden.
    Schließlich beugte sie sich über die ungerahmten Bilder im vordersten Gestell. Wieder war sie hingerissen vor Bewunderung. Die unfaßbare Bandbreite von Erichs Talent, seine Fähigkeit, Landschaften genauso meisterhaft zu malen wie Menschen und Tiere, die Unbeschwertheit des sommerlichen Gartens mit dem alten Kinderwagen, die…
    Und dann sah sie es. Verständnislos begann sie, wie gejagt die Bilder und Skizzen in den Ordnern zu durchblättern.
    Sie lief von einem Gemälde an der Wand zum nächsten. Ihre Augen weiteten sich ungläubig. Kaum wissend, was sie tat, stolperte sie zur Treppe und rannte zum Speicher hinauf. Wegen der Dachschräge mußte sie sich auf der obersten Stufe bücken, ehe sie den Raum betreten konnte. Als sie sich aufrichtete, wurde sie geblendet von einer alptraumhaft intensiven Farbenfülle an der hinteren Wand. Entsetzt starrte sie auf ihr eigenes Bild. Ein Spiegel?
    Nein. Das gemalte Gesicht bewegte sich nicht, als sie sich näherte. Das trübe Licht, das durch das schmale Lukenfenster drang, spielte auf der Leinwand mit Schattenstreifen wie ein geisterhaft zeigender Finger.
    Unfähig, sich von der Leinwand loszureißen, starrte sie das Bild minutenlang an, nahm jede groteske Einzelheit auf, spürte, wie sich ihr Mund in grenzenloser Pein verkrampfte, hörte den keuchenden Ton, der sich ihrer Kehle entrang.
    Endlich zwang sie ihre tauben, widerstrebenden Finger, die Leinwand zu packen und von der Wand zu reißen.
    Sekunden später entfernte sie sich mit dem Gemälde unter dem Arm von der Hütte. Der Wind war heftiger geworden und peitschte ihr ins Gesicht, nahm ihr den Atem, erstickte ihren verzweifelten Schrei.
    »Helft mir«, schrie sie. »So helft mir doch!
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