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Schrei in der Nacht

Titel: Schrei in der Nacht
Autoren: Mary Higgins Clark
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nur Augen für das Bild Ihrer Mutter. Es ist… es ist unbeschreiblich. Oh, kommen Sie doch herein. Ich bin Jenny MacPartland. Ich arbeite in der Galerie.«
    Eine ganze Zeitlang verweilte sein Blick auf ihrem Gesicht, studierte jeden einzelnen Zug. Sie wußte nicht, was sie tun sollte, und stand betreten da. Allmählich wurde sein Ausdruck weicher. »Jenny.« Er lächelte und wiederholte: »Jenny.« Dann fügte er hinzu: »Ich wäre nicht überrascht gewesen, wenn Sie gesagt hätten… Aber, lassen wir das.«
    Das Lächeln machte ihn unendlich liebenswert. Ihre Augen waren praktisch auf gleicher Höhe, und ihre Stiefel hatten sieben Zentimeter hohe Absätze, so daß sie ihn auf gut einen Meter sechsundsiebzig schätzte. Sein ebenmäßiges Gesicht wurde von tiefliegenden blauen Augen beherrscht. Dichte, gut geformte Brauen ließen die Stirn nicht zu breit erscheinen. Lockiges, bronzeblondes Haar erinnerte sie an Bildnisse auf alten römischen Münzen. Er hatte die gleichen schmalen Nasenflügel und den gleichen sensiblen Mund wie die Frau auf dem Bild. Er trug einen kamelhaarfarbenen Kaschmirmantel und hatte einen Seidenschal um. Was habe ich eigentlich erwartet? fragte sie sich. Auf das Wort Farm hin hatte sie sich sofort vorgestellt, wie der Maler mit Jeansjacke und schmutzigen Stiefeln in die Galerie gestapft kam. Bei dieser Vorstellung mußte sie lächeln und kehrte in die Realität zurück. Die Situation war recht absurd. Sie stand da und zitterte vor Kälte.
    »Mr. Krueger…«
    Er unterbrach sie. »Jenny, Sie frieren. Es tut mir furchtbar leid.« Seine Hand war unter ihrem Arm. Er führte sie zur Tür der Galerie und machte ihr auf.
    Er fing sofort an, die Anordnung seiner Bilder zu prüfen und bemerkte, was für ein Glück es sei, daß die letzten drei noch rechtzeitig eingetroffen waren. »Ein Glück für den Spediteur«, fügte er lächelnd hinzu.
    Jenny folgte ihm bei der eingehenden Begutachtung, zweimal blieb er stehen, um Gemälde zurechtzurücken, die kaum merklich schief hingen. Als er fertig war, nickte er sichtlich zufrieden. »Warum haben Sie ›Pflügen im Frühling‹ neben ›Die Ernte‹ gehängt?« fragte er.
    »Es ist doch dasselbe Feld, nicht wahr?« fragte Jenny.
    »Ich empfand einfach die Kontinuität zwischen dem Pflügen des Bodens und der Ernte. Ich wünschte nur, es gäbe auch eine Sommerszene.«
    »Es gibt eine«, antwortete er. »Aber ich habe beschlossen, sie nicht zu schicken.«
    Jenny warf einen Blick auf die Uhr über der Tür. Es war kurz vor zwölf. »Mr. Krueger, wenn es Ihnen recht ist, bringe ich Sie jetzt in Mr. Hartleys Büro. Er hat für ein Uhr einen Tisch im Russian Tea Room bestellt. Er kommt sicher gleich. Ich verschwinde für ein paar Minuten und esse irgendwo ein Sandwich.«
    Erich Krueger half ihr in den Mantel. »Mr. Hartley muß heute leider allein essen«, erklärte er. »Ich sterbe vor Hunger und gehe mit Ihnen zum Lunch. Das heißt natürlich, wenn Sie nicht schon verabredet sind?«
    »Nein, ich wollte nur schnell in den Drugstore.«
    »Versuchen wir’s doch im Tea Room. Um diese Zeit ist sicher noch etwas frei.«
    Sie akzeptierte widerstrebend, weil sie wußte, daß Hartley sauer sein würde — und sie zunehmend Gefahr lief, gekündigt zu werden. Sie kam viel zu oft zu spät. Sie hatte letzte Woche zwei Tage zu Hause bleiben müssen, weil Tina krank war. Aber ihr blieb jetzt nichts anderes übrig, als mitzugehen.
    Im Restaurant überhörte er den mißbilligenden Hinweis, daß er nicht reserviert hätte, und schaffte es, eben den Ecktisch zu bekommen, den er haben wollte.
    Jenny lehnte den vorgeschlagenen Wein ab. »Dann wäre ich in einer Viertelstunde am Einschlafen. Ich habe gestern nacht nicht viel Schlaf bekommen. Für mich bitte Perrier.«
    Sie bestellten Club-Sandwiches, dann beugte er sich vor. »Erzählen Sie mir etwas von sich, Jenny MacPartland.«
    Sie versuchte, nicht zu lachen. »Haben Sie schon mal den Dale-Carnegie-Kurs gemacht?«
    »Nein, warum?«
    »Sie sagen einem immer, man solle genau diese Frage stellen, wenn man jemanden kennenlernt. Interesse für den anderen zeigen. Ich möchte etwas über Sie wissen.«
    »Zufällig möchte ich das wirklich.«
    Die Getränke kamen, und sie begann zu berichten:
    »Ich bin alleinstehendes Familienoberhaupt, wie man so schön sagt. Ich habe zwei kleine Töchter, Beth, drei Jahre, und Tina, neulich zwei geworden. Wir haben eine Wohnung in einem Brownstone — einem Haus aus braunem Sandstein — in der
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