Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
Vom Netzwerk:
von Wissenschaft und Kultur einnimmt.
    Benoît habe ich vor 20 Jahren kennengelernt, als er mich für seine Gruppe in Yale anheuerte. Ich glaube, er holte mich in seine Welt, weil wir in einem speziellen Sinn beide wie kleine Kinder waren. Oft rief Benoît wegen einer Frage oder einer Idee an, und wir vertieften uns ins Gespräch. Irgendwann schaute ich auf die Uhr, und es waren eine oder zwei Stunden vergangen. Für vielleicht eine Woche gingen wir dann getrennte Wege und arbeiteten einige Details unserer Einsichten aus. Wieder kam ein Anruf von ihm, und wir waren erneut in unserer eigenen Welt versunken.
    Benoît liebte komplizierte Dinge, die Rauheit von Küstenlinien und Kursgrafiken, die Musik von Charles Wuorinen und György Ligeti, die Gemälde und Glasfenster von Augusto Giacometti und Drucke von Hokusai. Was er darin sah und was vielleicht sein Denken durch die Wanderungen seiner langen (aber immer noch zu kurzen) Karriere geleitet hat, war das Gefühl, dass all diese Beispiele gemeinsame Merkmale besaßen. Muster, die fortwährend erneut auftraten, wenn er immer genauer hinsah. Zweifellos war das von vielen Wissenschaftlern und Künstlern bemerkt worden, und die Beispiele kontinuierlicher, nirgends differenzierbarer Kurven waren aus den Grundkursen über reelle Analysis vertraut. Doch Benoît erkannte weit mehr – eine Möglichkeit, diese wiederholten Muster so zu quantifizieren, dass komplizierte Formen problemlos dynamisch gedeutet werden konnten, als Prozesse und nicht bloß als Objekte.
    Die Leistungsfähigkeit dieses Paradigmas ist immens und wirkt immer noch. Im September 2010 konnte ich mit Vergnügen zusehen, wie die 80 Studenten meines Seminars in fraktaler Geometrie ohne eine Ahnung von der Produktion fraktaler Bilder in den Hörsaal kamen, ein paar simple Regeln befolgten und am Ende des Unterrichtsabschnitts imstande waren, allein beim Anblick dieser Bilder anzugeben, wie die entsprechenden Fraktale zu generieren waren.

© Mit freundlicher Genehmigung von Michael Frame

    Ich wies sie darauf hin, wie sehr ihr Verständnis an diesem Tag zugenommen hatte. Ihre anfängliche Überraschung wurde von Grinsen und einem vielstimmigen »Cool!« abgelöst. (Dann warnte ich sie allerdings, dass solche Wunder nicht jeden Tag zu erwarten seien.) Das ist es, was Benoît der Welt der Mathematik geschenkt hat. Sollte irgendjemand an der Macht seines Geschenks zweifeln, so möge er eine übliche Geometrielektion über ebene Abbildungen mit diesem Tag in einem Kurs über Fraktale vergleichen.
    Diese Wirkung ist der visuellen Komplexität der Bilder – sie reflektiert Benoîts Inspiration – zu verdanken, zusammen mit der Möglichkeit, diese Bilder in wenige simple Regeln zu dekodieren. Ein weiterer Punkt ist, dass ein Student, wenn er begriffen hat, wie diese Muster zu sehen sind, die Lösung mittels einfacher Software binnen Sekunden überprüfen kann. Visuelle Experimente, die durch Computer auszuführen sind – ein weiteres der anfangs unpopulären Anliegen Benoîts –, sind heute so alltäglich, dass sie keines Kommentars mehr bedürfen.
    Außerhalb der Naturwissenschaften verwendete Benoît wohl die meiste Zeit auf Fraktale in der Finanzwirtschaft. Bacheliers Modell von 1900 stellte drei Eigenschaften heraus: Skalierung, unabhängige Sprünge und kurze Kurvenausläufer (große Sprünge sind tatsächlich selten). Die erste dieser Eigenschaften fügte sich in Benoîts Sicht der Fraktalität in Kursreihen und trug vielleicht dazu bei, dass er sie in dieser Form ausprägte. Die anderen beiden Eigenschaften stimmten nicht so gut mit den Beobachtungen überein. Benoîts Untersuchungen von 1960 zeigen, dass fraktionale Brown’sche Bewegungen und Lévy-stabile Prozesse ebenfalls skalieren. Die erste zeigt abhängige Sprünge, besitzt aber immer noch kurze Ausläufer; die zweite besitzt lange Ausläufer, aber keine unabhängigen Sprünge. In den 1990er-Jahren entwickelte Benoît einen außerordentlich einfachen und eleganten Ansatz: die multifraktale Skizze. Diese Skizzen skalieren, zeigen abhängige Sprünge und lange Ausläufer und lassen sich problemlos fein abstimmen. Vieles in Benoîts Arbeit beruhte auf einer einfachen Idee – Skalierung, Iteration und Dimension –, die auf sehr raffinierte Weise in neuen Anordnungen angewandt wurde.
    Die bei Weitem größte Überraschung ist die Mandelbrot-Menge. Im Unterricht erstellen wir die einfache Formel, schildern den Vorgang der Iteration und das Vorgehen bei
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher