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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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Wert und ihre Schönheit weit über die enge Welt der Experten hinaus leuchten, weil sie der Welt des Wissens und der Welt des Gefühls ein Element der Vereinigung bringen. Seit ich Wissenschaftler geworden war, bestand ein großer Teil meiner Arbeit darin, ein Gemenge alter Themen ins Leben und zu siegreicher Entwicklung zurückzuführen. Obwohl sie außer ihrem antiken Ursprung scheinbar wenig gemeinsam hatten, zeigte sich schließlich, dass sie alle mit Rauheit in der Natur und in der Kunst zu tun hatten. Überraschenderweise scheint eine Verknüpfung hergestellt worden zu sein zwischen Strukturen, die zunächst zu reinen Dekorationszwecken ausfindig gemacht worden waren, und dann viel später von Mathematikern eingeführt wurden, um pathologische Formen zu erfassen. Und noch später wurden eben diese Strukturen zu wissenschaftlichen Zwecken benutzt; als unbeabsichtigter Bonus kam hinzu, dass damit auch Schönheit geschaffen wurde.

Rauheit in Malerei und Musik
    Meine ersten fraktalen »Fälschungen« von Bäumen und Bergen lösten bei mir die Frage aus: Falls die realen Grundlagen der Natur wie Bäume und Berge von fraktaler Natur sind – könnte das dann nicht auch für ihre bildlichen Darstellungen gelten? Nehmen wir Leonardo da Vincis berühmte, in Die fraktale Geometrie der Natur nachgedruckte Zeichnung »Flut« . Es handelt sich zweifellos um ein Fraktal. Fähige Künstler müssen Arrangements wie Mischungen von Wirbeln aller Größe finden, die ausgewogen wirken; heißt das nicht, dass Elemente aller Größen auf eine natürliche – also fraktale – Weise verteilt sind?

© aus Benoît B. Mandelbrot: Die fraktale Geometrie der Natur (dt. Ausgabe 1987)
    In Die fraktale Geometrie der Natur wurde Hokusais Druck »Die große Welle« abgebildet; auf diesem berühmten Bild ist im Hintergrund der Berg Fuji zu sehen. Hokusai war um 1800 auf dem Gipfel seines Schaffens, doch in der Geschichte finden sich Beispiele vieler früherer Maler oder Philosophen, denen komplizierte Formen mit fraktaler Struktur bewusst waren. Der französische Maler Claude Lorrain, der meist in Italien arbeitete, malte Landschaften, die vorgeben, realistisch zu sein, in Wahrheit aber außerordentlich vereinfacht und problemlos in fraktalen Begriffen zu deuten sind. Im Lauf der Geschichte haben Maler immer die Möglichkeiten fraktaler Strukturen erkannt, ohne dass sich das zu einer Geometrie entwickelt hätte, da nur wenige darüber schrieben und wahrscheinlich keiner etwas darüber las.
    Der russische Maler Wassily Kandinsky (1866–1944) ließ sich dabei filmen, wie er auf einem Blatt Papier im Format 80×80 cm arbeitete. Er begann mit einem Strich quer über das ganze Blatt und fügte dann kürzere Striche hinzu. Am Ende des Films war er mit vielen noch kürzeren Strichen beschäftigt, womit er den Eindruck bestätigte, den ich beim Betrachten von Bildern Kandinskys gewonnen hatte: Er verstand die Fraktalität – vielleicht nicht explizit, aber intuitiv.
    Anfangs betrachtete ich diese Kunstwerke als amüsant, wenn auch nicht unverzichtbar. Ich änderte meine Meinung aber schon bald, da ich von unzähligen Lesern auf ein seltsames Phänomen aufmerksam gemacht wurde. Ich fing an, in den Werken von Künstlern seit unvordenklichen Zeiten Fraktale zu erkennen. Bemerkenswert viele Künstler verfügten nicht über das Vokabular, ihren Begriff von der Natur der Fraktale in Worten auszudrücken, doch in ihren Werken zeigt sich eindeutig ein solches Verständnis.

© Benoît B. Mandelbrot Archives
    Eine mathematische Struktur, das aus mehreren identischen Teilen aufgebaute Sierpinski-Dreieck, erweist sich als sehr verbreiteter Bestandteil des Dekors in italienischen Kirchen – entweder in Mosaiken des Bodenbelags oder in Gemälden an Gewölben und Decken. Auch in der persischen und indischen Kunst verschiedener Perioden finden sich vergleichbare Strukturen.

© John Tate

    Ich habe enge Beziehungen zu Komponisten, die in einer völlig anderen Welt leben. Wie mir insbesondere György Ligeti gestand, habe er einen wichtigen Aspekt der Musik erst verstanden, nachdem er meine Bilder gesehen hatte: Die Musik könne sich nicht beliebig frei bewegen, weil sie fraktal aufgebaut sein müsse. Die Musikschulen würden nie lehren, wie Musik von Lärm zu unterscheiden sei. Als Ligeti in New York einen Preis erhielt, erschien ein großer Artikel, in dem er die größten gestalterischen Entwürfe aller Zeiten aufzählte. Die Liste nannte das Book of Kells ,
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