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Schöne Bescherung

Schöne Bescherung

Titel: Schöne Bescherung
Autoren: Sobo Swobodnik
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mit dem Hut, dachte Plotek. Und die, die es sehen wollen, gleich mit. Meinetwegen die Matschbirne aus dem Alzgerner Forst auch. Wen es wirklich interessiert, also Aufklärung, Wissenschaft und Erkenntnisgewinn, soll Adorno lesen und ab und an in den Weißbierschaum gucken.
    »Oder ist das gar Kunst?«, hat der Kommentator jetzt aus dem Fernseher heraus gefragt.
    Scheißegal, hat Plotek gedacht und dann: Angucken tu ich mir das trotzdem nicht. Und hat umgeschaltet.
    ›Abenteuer Wildnis.‹ Endlich! Tierfilme ist das Einzige im Fernsehen, bei dem Plotek halbwegs entspannen kann, sich ablenken – von sich. Jetzt mit Krokodilen. Mit fliegenden Krokodilen. Das gibt’s! Im Norden Australiens, dreihundert Kilometer südlich von Darwin, in der Nähe des Kakadu National Parks fliegen Krokodile wie Rotkehlchen durch die Luft. Fünfeinhalb Meter große Krokodile springen aus dem Wasser hoch in die Luft und schnappen nach Fleischbrocken, die an einer Leine hängen – unglaublich! Und hilfreich, für Plotek, weil, in Anbetracht eines fliegenden Krokodils wird die eigene auf dem Sofa liegende Existenz unerheblich. Was ist ein auf dem Sofa liegender Plotek gegen ein fliegendes Krokodil in Australien? Nicht viel. Nichts. Gar nichts.
    Plotek mag Krokodile, nicht nur weil sie fliegen können, sondern auch weil sie mit den Beckenknochen atmen. Wieder unglaublich. Da wird das Nichts, das Garnichts, noch weniger. Und was nicht ist, macht keine Probleme, dachte Plotek und dann an die amerikanischen Biologen, die herausgefunden haben, dass die Alligatoren kein Zwerchfell haben. Bei ihnen zieht sich ein großer Diaphragma-Muskel zusammen, der am Becken verankert ist. (Bei dem Wort Diaphragma schoss Plotek leichte Röte ins Gesicht.) Die Leber wird zurückgezogen, damit die Lunge zusätzlich Raum bekommt. Außerdem haben die Biologen auch noch herausgefunden, dass bei den Alligatoren und Krokodilen das Schambein ein Scharniergelenk mit dem übrigen Beckengürtel bildet. Dadurch bleibt es beweglich, kann wie eine Pleuelstange schräg auf – und abwärts fahren und über einen Muskel ebenfalls die Eingeweide in den Bauchraum ziehen. Ich würde auch gerne mit dem Beckenknochen atmen, dachte Plotek, noch lieber mit dem Bauch denken. Oder dem Unterleib, dem großen Zeh. Dann würden die Gedanken keine Kopfschmerzen mehr machen wie jetzt. Obgleich das Denken bei Plotek so eine Sache ist. Plotek war ein Um-die-Ecke-Denker. Je weniger er um die Ecke gehen oder gar nicht gehen konnte – physisch wie psychisch jetzt, weil völlig am Ende – , desto besser konnte er um die Ecke denken. Wenn er körperlich in vollkommene Lethargie gefallen war, aber seelisch schon auf dem Balkongeländer spazieren ging und den Abgrund ganz laut hat »Hallo« rufen hören, waren in seinem Kopf keine Rundung, kein Bogen mehr zu finden. Alles nur noch Ecken, Kanten, Splitter und Knicke – das Denken ein einziger Gedanken-Zickzack. Verrückt.
    »Ein bisschen verrückt«, sagte auch Doktor Hohenthaler, als ihm Plotek sein Leid klagte. Bisschen geht noch, dachte dann Plotek. Mehr wäre zu viel. Jetzt war das Bisschen schon bisschen viel – einerseits. Andererseits war es auch Erkenntnisgewinn – ohne Leichen. Nicht auf direktem Wege von Nervenzelle zu Nervenzelle spann sich der Gedanke, sondern immer über Umwege, über Mauervorsprünge, Buchsbaumhecken und Hauseingänge – bildlich jetzt. Und da ging Plotek so einiges kreuz und quer wie ein Hase auf der Flucht durch den Kopf. Zum Beispiel: sein Leben, Agnes’ Leben, ihrer beider Leben – und da war er schon wieder beim Thema. Natürlich hätte er jetzt Agnes anrufen können, sich entschuldigen, sagen, das sei alles nicht so gemeint gewesen. Und noch mal entschuldigen und um Verzeihung bitten. Das ganze Programm eben. Und dann? Dann hätte er doch ins Allgäu fahren müssen, mit Agnes, über Weihnachten zu deren Familie – grauenvoll! Plotek hasste nicht nur die Familie generell und Weihnachten im Speziellen. Er konnte auch mit dem Allgäu nichts anfangen. Berge sind ihm ein Graus. Er braucht bloß einen zu sehen, fällt ihm spätestens nach zwei Tagen schon das ganze Gebirge auf den Kopf. Nach einer Woche die ganzen Alpen. Einerseits konnte Plotek die Berge ums Verrecken nicht leiden, andererseits hatte er Respekt vor ihnen. Vom Gebirge ging für Plotek etwas Bedrohliches und Größenwahnsinniges aus. Kein Wunder, dass die Nazis sich auf dem Obersalzberg eingenistet hatten. Diese Gigantomanie hatte etwas
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