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SCHÖN!

SCHÖN!

Titel: SCHÖN!
Autoren: Rebekka Reinhard
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Die Wahrscheinlichkeit, dass eine vierzigjährige Frau, die zwei Kinder auf die Welt gebracht hat, um sechs Uhr aufsteht, von neun bis zwei hochkonzentriert am Schreibtisch sitzt und den Rest des Tages Hausaufgaben betreut, Geburtstage organisiert, einkauft, wäscht, kocht und sich anschließend, schon ziemlich entkräftet, um einen liebevollen Dialog mit ihrem ebenso aus gepowerten Mann bemüht, so aussieht, liegt bei nahe 0 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieselbe Frau ihre Figur an Look 1 , 2 oder 3 misst, obwohl sie weiß, dass dieser Vergleich schwach sinnig ist, ist da schon viel höher. In diesem absurden Verhalten spiegelt sich nichts anderes als die allgemeine grausame Tendenz unserer Medienkultur, das Äußere einer normalen Frau nicht als normal, sondern als hässlich einzustufen. Was es sehr schwer für sie macht, ihren Körper, so, wie er ist, klaglos zu akzeptieren, und erst recht, schön von hässlich zu unterscheiden.
     
    Abb. 1: Cindy Crawford in einem Fitness-Video von 1999
    Was ist schön? Nehmen wir Cindy Crawford, das wohl berühmteste Supermodel der 1980 er- und 90 er-Jahre. Ganz klar: Die meisten bewundern ihren immer noch schönen, weil jugendlich schlanken und durchtrainierten Körper. Vor nur etwas mehr als hundert Jahren wäre unser Urteil ganz anders ausgefallen. Wir hätten sie wegen ihrer kränklichen Magerkeit und hervortretenden Sehnen bemitleidet und ihr aufblasbare Gummiprothesen für Hüften und Po empfohlen. Denn damals, vor dem Ersten Weltkrieg, hieß »schön« nichts anderes als »üppig«: reife, riesige Brüste, riesige, von Cellulitis gezeichnete Schenkel.
    Ist Schönheit also bloß eine Konvention, eine Mode (s. Kap. 2 )? Oder gibt es doch objektive Maßstäbe für schön und hässlich? Und wenn ja: Wer besäße die rechtmäßige Autorität, solche Maßstäbe festzusetzen? Heidi Klum?
    Wenden wir uns zunächst an Platon ( 428 – 348 v. Chr.), der mit seinem Dialog Hippias Major den ersten systematischen Versuch unternommen hat, herauszufinden, worin Schönheit besteht. Protagonisten dieses fiktiven philosophischen Dialogs sind Sokrates ( 46 9 – 399 v. Chr.), Platons Lehrer, und der selbst gefällige Sophist Hippias. Von Sokrates gefragt, was das Schöne sei, antwortet Hippias ziemlich fantasielos: »Ein schönes Mädchen ist eine wirkliche Schönheit.« Sokrates gibt sich natürlich damit nicht zufrieden: Warum soll das Schöne ausgerechnet ein schönes Mädchen sein? Was ist mit einer schönen Stute, einer schönen Leier oder einer schönen Kanne – sind die vielleicht nicht »schön« (kalós)? Hippias gibt zu, dass man nicht alle Dinge in gleicher Weise als schön betrachten kann – und schließt daraus, dass es da wohl irgendwo eine Rangordnung geben muss. Eine solche Rangordnung des Schönen wäre, meint Sokrates, allerdings abhängig vom jeweiligen Standpunkt. Das Schöne kann hässlich sein und das Hässliche schön – es kommt ganz auf die Perspektive an: Eine schöne Göttin ist mit Sicherheit schöner als ein schönes Mädchen … Allmählich wird Hippias klar, dass es Sokrates gar nicht darum geht, irgendwelche Beispiele für »schön« zu finden. Sondern darum, das allgemeine Wesen oder (wie Platon später schrieb) die Idee der Schönheit (s. Kap. 4 ) zu bestimmen, die allem, was wir schön nennen, zugrunde liegt. Laut Sokrates ist die Idee des Schönen unabhängig von dem, »was die meisten Menschen für schön halten«. Etwas, das objektiv betrachtet gar nicht schön ist , kann ja sehr wohl subjektiv schön scheinen . Er bezweifelt, dass man sich in dieser Sache je einigen wird: »Oder verhält es sich … nicht so, dass … über nichts mehr Streit und Kampf stattfindet als gerade hierüber, sowohl in den persönlichen Be ziehungen der Einzelnen zueinander wie im öffentlichen Leben der Staaten?«
    Laut Sokrates kann das Wesen des Schönen niemals gleich bedeutend mit Konventionen, Bräuchen oder Moden sein. Wenn »schön« etwas sein sollte, was einer Sitte gemäß passend oder schicklich ist, müsste es ja auch »immer von allen dafür gehalten werden«. Das aber ist offensichtlich nicht der Fall (denn es gibt durchaus Leute, die Cindy aus Marzahn attraktiver finden als Cindy Crawford). Nachdem weitere Definitionsversuche gescheitert sind, schlussfolgern Hippias und Sokrates, dass das Schöne eben schwer zu begreifen sei.
    Ganz anders sehen es die modernen Attraktivitätsforscher. Sie setzen theoretischen Grübeleien spezielle Softwarepro gramme
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