Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
SCHÖN!

SCHÖN!

Titel: SCHÖN!
Autoren: Rebekka Reinhard
Vom Netzwerk:
entgegen, die menschliche Schönheit messbar machen sollen. Historisch betrachtet ist dieses Vorhaben wenig originell. Bereits im 6 . Jahrhundert v. Chr. kam die Philosophieschule des Pythagoras ( 570 v. Chr. – mind. 510 v. Chr.) zu dem Ergebnis, dass alles, was schön ist, eine Frage des »richtigen Maßes« sei. Für die Pythagoreer beruhte Schönheit auf der Wahl der Proportionen und der rechten Anordnung der einzelnen Teile zu einem stimmigen Ganzen. Das Gesetz des Schönen, glaubten sie, liege in der Mathematik: Das Schöne lässt sich in exakten Zahlenverhältnissen ausdrücken – wie der harmonische Klang von Tönen und die Proportionen der Intervalle in der Musik, die Symmetrie in der Architektur oder die Ordnung des Kosmos insgesamt.
    Platon fand diese Vorstellung beeindruckend – so sehr, dass er die kosmischen Proportionen in seinem späteren Werk Timaios auf den menschlichen Körper übertrug. Im Timaios beschreibt er den Menschen als ein symmetrisch geordnetes Ganzes, das den Kosmos »proportional«, »maßstäblich« abbildet, eine aus Körper, Seele und Vernunft zusammengesetzte Einheit. Der Mensch ist gut (agathón), weil er schön (kalós) ist, und er ist schön, weil seine Schönheit auf Proportionalität beruht.
    Obwohl die Attraktivitätsforschung ebenso wie Platon der Erkenntnis der Pythagoreer zustimmt, dass Schönheit wesentlich mit den richtigen Proportionen zu tun hat, also letztlich eine Sache der Mathematik ist – die eine (vermutlich hoch komplizierte und endlos lange) Schönheitsformel ist bis heute nicht gefunden. Bisher sträubt sich Schönheit gegen jeden Versuch, ihr durch wissenschaftliche Analysen auf die Schliche zu kommen. Alles, was man sagen kann, ist, dass ein symmetrisches, jugendlich-ebenmäßiges, mathematisch durchschnittliches Gesicht (Heidi Klum) überzufällig häufig als attraktiver empfunden wird als eines, bei dem das »rechte Maß« verfehlt wurde (Margaret Thatcher). Man kann Schönheit messen, aber nicht sagen, woraus sie sich zusammensetzt. Man erkennt sie erst, wenn man sie vor sich hat. Was schön ist, bewirkt in jedem Fall die emotionale Reaktion: »Schön!« Was so viel heißt wie: »Egal, was es ist – ich will ganz nah dran sein, ich will es haben, ich will ein Teil davon sein!«
    Wir halten fest: Die meisten Frauen wollen schön sein, auch wenn niemand ganz genau weiß, was das bedeutet. Es stellt sich die Frage: Warum? Warum hat die moderne, vom Verdienst des Mannes immer unabhängigere Frau sogar oft das Gefühl, schön sein zu müssen ? Die drei eng ineinander verzahnten Hauptgründe sind:
    MACHBARKEIT: Ein schönes Äußeres verspricht positive Charaktereigenschaften. Es ist kein Geheimnis, dass schöne Menschen als kompetenter und wertvoller wahrgenommen werden und sehr oft erfolgreicher sind als weniger schöne. Im Beruf wie in der Liebe. Die Vorstellung der altgriechischen Philosophie, dass das Schöne und das Gute eine Einheit bilden, dass es eine vollendete Übereinstimmung von Schönheit und Güte gäbe – die kalogathia (s. Teil 2 und 3 ) – ist nicht im Geringsten veraltet. Im »offiziellen Magazin« (Ausgabe Mai 2011 ) zu Heidi Klums Castingshow Germany’s next Topmodel findet sich in den Selbstdarstellungen der Kandidatinnen alles, was ein edles Gemüt ausmacht: Zuverlässigkeit, Einfühlungsvermögen, Familienorientiertheit, Optimismus, Geduld, Ausgeglichenheit, Wissensdurst, Ausdauer und Disziplin. So be kräftigt die »kontaktfreudige Jill« aus Stuttgart: »Bei mir stimmt nicht nur das Äußere, sondern auch das Innere.« Als Topmodelkandidatin kann sie sich auf dieser naturgegebenen Ausstattung freilich nicht ausruhen. Das Gute kann nie gut genug und nie schön genug sein – sie muss alles geben, um es zu verbessern. In der klumschen Tyrannei zählt nur eins: Leistung. Die sogenannten »challenges« (Herausforderungen) sind nichts anderes als moralische Prüfungen, die dazu dienen, die Willenskraft der Kandidatinnen zu testen: Nur wer stundenlang, mit einem Hauch von Bikini bedeckt, lächelnd in klirrender Kälte auszuharren vermag, nur wer in der Lage ist, furchtlos unter einer Tarantel zu posieren, nur wer sich bereitwillig die geliebte Wallemähne stutzen lässt – nur der bleibt im Rennen.
    In Germany’s next Topmodel spiegelt sich das Credo unserer Zeit: Schönheit ist machbar. Sie ist eine Leistung, kein Geschenk . Was nichts anderes heißt als: Wer nicht bereit ist, für die eigene Schönheit eine Leistung zu bringen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher