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Schön ist das Leben und Gottes Herrlichkeit in s

Schön ist das Leben und Gottes Herrlichkeit in s

Titel: Schön ist das Leben und Gottes Herrlichkeit in s
Autoren: C Sievers
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werfen lassen. Jetzt wusste es jeder im Dorf, dass das Kind eine Missgeburt war, warum auch nicht, dachte Marianne, die Letzten werden die Ersten sein, hatte der Pfarrer gesagt, und das Letzte war Ute bestimmt. Das sagten sie in der Schule, auch die Großmutter sei das Letzte, weil sie für andere Leute den Dreck wegmachte, sogar auf deren verschissenem Klo.
    Doch dafür wurde sie bezahlt, und für das Geld brachte sie Essen, was die Mutter nicht konnte, weil sie krank im Kopf war, seit der Vater sie verlassen hatte. Manchmal brachte die Großmutter auch einen Schein, den die Mutter in die Konservendose legte, bis er für Tabletten und Bier ausgegeben wurde.
    Marianne stahl nicht, nicht von der Mutter jedenfalls, denn dafür gab es Prügel, höchstens mal im Konsum ein Päckchen Brausepulver oder Liebesperlen. Vor ein paar Tagen hatte die Kassiererin sie erwischt und ein großes Geschrei veranstaltet.
    Jetzt saßen die Mutter und die Großmutter in der Küche, es war Abend, und Marianne tat, als ob sie schlief. Sie atmete langsam und schwer, wie die Mutter, wenn sie mit dem Kopf auf dem Tisch lag.
    »Das Kind kommt auf die schiefe Bahn«, keifte die Großmutter, und: »Das kommt davon, dass es keinen Vater hat.« Sie schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ist ja auch kein Wunder, so, wie du aussiehst.«
    Die Mutter fuhr sich durch das schüttere Haar, das roch wie Seetang im Sommer, der am Ufersaum lag und vertrocknete. Sie antwortete leise, und Marianne musste den Atem anhalten, um zu verstehen: »Es ist wegen Ute, dass Heiner fort ist. Er wollte noch einen Sohn, kein Kind mit sechs Fingern. Wenn Ute nicht wäre …«
    Marianne zog sich die Decke über den Kopf, die Stimmen der Erwachsenen dumpfes Gemurmel.
    Sie versuchte, sich an den Vater zu erinnern, der groß gewesen war und dick, mit einem roten Gesicht. Seine Gummistiefel reichten bis zum Bauch, er zog sie an, wenn er im Dorf die Gräben reinigte. Manchmal fand er eine tote Ente. Wenn er guter Dinge war, hatte er die kleine Marianne in einen der beiden Stiefel gehoben, so dass nur noch der Kopf heraussah. Es hatte darin nach Füßen gerochen. Wenn er abends heimkam, gab es Fleisch, und Weihnachten ein richtiges Geschenk, in glänzendes Papier eingewickelt, goldene Schleifen, einmal eine Puppe, ein anderes Mal ein Kleid mit Rüschen. Bier getrunken hatte die Mutter auch damals schon und die kleinen Pillen genommen. Wenn der Vater das sah, nahm er die Schachtel und warf sie fort.
    Nach Utes Geburt war der Vater verschwunden und eine Frau von der Fürsorge aufgetaucht.
    Wenn Ute verschwände, käme der Vater sicher wieder, vielleicht sogar noch vor Weihnachten. Einmal schon war ein Kind aus dem Dorf verschwunden. Es war über die Eisschollen auf das Meer hinausgelaufen und eingebrochen. Man hatte es nie wieder gefunden. »Die Fische haben es aufgefressen«, hatte die Großmutter erklärt. Seitdem erstarrte Marianne beim Anblick der Heringe in den Körben der Fischhändler an der Promenade.
    Die Fische würden auch Ute auffressen. Dann wäre Marianne wieder allein, aber bald käme ein neues Brüderchen, ein schöneres, mit fünf Fingern und ohne Spalte im Gesicht. Das könnte man in der Schule vorzeigen, und keiner würde lachen.
    Marianne kam unter der Decke hervor. In der Küche herrschte Stille. Die Großmutter war gegangen, musste früh zu Bett, ihr Tag begann gegen vier, dann putzte sie beim Zahnarzt, danach bei anderen Leuten, die es sich leisten konnten.
    Marianne kroch aus dem Bett und schlich zur Tür. Die Mutter lag auf der Küchenbank und atmete tief, die Augen geschlossen, das Licht hatte sie vergessen. Marianne schlüpfte durch den Türspalt und löschte die Lampe. Von draußen schien der Mond durch das Fenster, der Schnee leuchtete blau. Ute lag auf einer Decke und streckte die Ärmchen von sich.
    Marianne tappte zurück in ihr Zimmer, öffnete den Kleiderschrank und zog hervor, was sie fand. Zwei Hosen, drei Pullover und Strümpfe, alles übereinander, es war bitterkalt. Auf dem Flur nahm sie Schal und Mütze, außerdem die Jacke, die die Frau von der Fürsorge gebracht hatte, sie hatte Babette gehört, aus der zweiten Klasse, die immer neue Sachen bekam. Marianne schlüpfte in die Halbschuhe, violett mit goldenen Schnallen, sie mussten schön gewesen sein, bevor der Schnee seine Ränder hinterlassen hatte, jetzt waren sie zu klein, hoffentlich gab es bald neue.
    Sie schlich zurück in die Küche, vorbei an der reglosen Mutter, beugte sich über Ute,
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