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Schneetreiben

Schneetreiben

Titel: Schneetreiben
Autoren: Stefan Holtkötter
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psychologische Gutachten
angesehen, das bei seinem zweiten Prozess erstellt wurde. Demnach haben wir es
mit einem Serienvergewaltiger zu tun, der mit hoher Wahrscheinlichkeit
rückfällig werden wird. Seine Vergewaltigungen wurden zunehmend brutaler, was
auf eine gewisse Art der Eskalation hindeutet. Auf was müssen wir uns denn hier
einstellen?«
    »Nun ja, ich kann nur sagen, dass ich dieses Gutachten nicht
erstellt habe. Unter Umständen wäre ich zu einem anderen Ergebnis gekommen, was
die Einschätzung des Täters und die Möglichkeit seiner Resozialisierung
angeht.«
    Hambrock spürte, dass er ärgerlich wurde. »Aber er ist doch bereits
rückfällig geworden. Nach seiner letzten Entlassung hat er sich nicht viel Zeit
gelassen, um sein nächstes Opfer zu überfallen. Und bei dem einen Opfer ist es
nicht geblieben.«
    »Deshalb sitzt er ja auch dieses Mal nicht im Knast, sondern im
Maßregelvollzug, wo Inhaftierte therapeutisch begleitet werden. Er nimmt seit
zwei Jahren regelmäßig an Sitzungen teil, und er macht Fortschritte, große
Fortschritte sogar.«
    »Wollen Sie mir ernsthaft erzählen, dass von ihm keine Gefahr mehr
ausgeht?«
    Wüllen zögerte. »Nein. Das nicht.« Er machte eine Pause. »Im Gegenteil,
wenn ich ehrlich sein soll, erhöht seine Flucht sogar das Risiko, dass er
rückfällig wird. Serienvergewaltiger sind wie Süchtige, deren Gedanken sich
ständig um den nächsten Kick drehen. Sie müssen lernen, diese Bedürfnisse nicht
außer Kontrolle geraten zu lassen. Die beste Prophylaxe dafür ist ein
ausgeglichener und stressarmer Lebensstil. Daran werden sie hier herangeführt.«
    »So ein Lebensstil dürfte auf der Flucht vor der Polizei schwer
umzusetzen sein.«
    »Eben. Es ist so, als wollten Sie sich das Rauchen abgewöhnen. Wenn
Ihnen mit einem Mal alles über den Kopf wächst, ist die Wahrscheinlichkeit
größer, dass Sie Ihre guten Vorsätze über Bord werfen und zur nächsten
Zigarette greifen. Das muss jetzt nicht heißen, dass er tatsächlich rückfällig
wird. Es bedeutet nur, dass ein Risiko vorhanden ist.«
    »Also müssen wir uns auf weitere Sexualstraftaten einstellen?«
    »Ich weiß nicht, worauf Sie sich einstellen müssen. In jedem Fall
wird es das Beste sein, Martin Probst so bald wie möglich zurück in seine Zelle
zu bringen.«
    Klara saß allein in der Küche, trank starken Kaffee und
sah hinaus in den trüben Herbsthimmel. Es regnete immer noch, und sie begann
sich zu fragen, ob es jemals wieder aufhören würde. Sie fühlte sich schrecklich
müde.
    Es war kurz nach neun, der Bus nach Münster würde in wenigen Minuten
abfahren. Sie leerte die Tasse und stand auf. Es gab bei diesem Wetter
eigentlich keinen Grund, sich auf den ungemütlichen Weg zur Fachhochschule zu
machen. Zudem wäre es kein Problem gewesen, die heutige Vorlesung ausfallen zu
lassen. Dort erwartete sie nichts, was sie nicht auch in Büchern nachlesen
könnte. Doch sie hatte weder Lust, sich zu Frau Burtrup ins Wohnzimmer zu
setzen, noch wollte sie zurück zu Jens ins Bett. Also konnte sie genauso gut
nach Münster fahren.
    Leise ging sie die Treppe hinauf und schlich ins Schlafzimmer, um
Tasche und Jacke zu holen. Drinnen war es heiß und stickig, und es roch so
stark nach Alkohol, dass ihr übel wurde. Sie stahl sich auf Zehenspitzen zum
Sessel neben dem Bett, griff sich ihre Sachen und machte wieder kehrt. Sie
wollte Jens keinesfalls wecken. Es würde reichen, wenn sie ihm am Nachmittag
erklärte, weshalb sie nun doch zur Vorlesung gegangen war.
    Sie war bereits an der Zimmertür, als sie innehielt und sich
nochmals umwandte. Schlechtes Gewissen machte sich bemerkbar, schließlich war
gestern sein Geburtstag gewesen, und jetzt verschwand sie klammheimlich und
ohne ein Wort. Aber dann sagte sie sich, dass ihr später schon eine passende
Ausrede einfallen würde, und schloss leise die Tür.
    Vor dem Haus erfasste sie eine kalte Windböe. Sie kauerte sich unter
ihren Schirm und trat hinaus in den Regen. Es waren nur wenige Meter bis zur
Haltestelle, und mit einem Blick zur Hauptstraße konnte sie erkennen, dass der
Schnellbus noch nicht eingetroffen war. Autos jagten an ihr vorbei und begossen
sie mit Spritzwasser, und sie lief eilig zur Haltestelle, um sich dort in
Sicherheit zu bringen.
    Nachdenklich blickte sie zum Hof der Burtrups. Tannen trennten die
Straße von den Wirtschaftsgebäuden, dahinter standen der Gartenzaun und die
dichten Nusssträucher, die das Wohnhaus vor dem Lärm der Autos
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