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Schneegestöber (German Edition)

Schneegestöber (German Edition)

Titel: Schneegestöber (German Edition)
Autoren: Sophia Farago
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antreten und auch den Titel eines Earl of Westmore übernehmen. Der zweite Bruder Richard fuhr als Marineoffizier zur See. Er selbst hatte nach dem Studium in Eton und Cambridge die Stelle des Pfarrers von St. Ermins nahe Bath übernommen, was den Ausgangspunkt für einen Aufstieg in der kirchlichen Hierarchie bilden sollte. Neben seiner seelsorgerischen Tätigkeit hatte er sich entschlossen, dem Vorbild seines Vorgängers zu folgen und den jungen Damen im Institut von Mrs. Clifford Religionsunterricht zu erteilen. Dies brachte nicht nur eine angenehme Abwechslung im oft eintönigen Alltag mit sich, sondern auch eine höchst willkommene Aufbesserung der Finanzen der Pfarre. Dort stand es mit dem Geld wahrlich nicht zum besten. Der alte Pfarrer hatte seinem Nachfolger nichts als Schulden hinterlassen. Von seinem Vater, dem Earl, der neben seinen drei Söhnen auch noch drei Töchter zu versorgen hatte, konnte Mr. Westbourne keinerlei Unterstützung erwarten. Mrs. Cliffords Angebot, den Religionsunterricht weiterzuführen, hatte er daher mit großer Freude angenommen. Die Stunden selbst gestaltete er anschaulich und abwechslungsreich, und es war ihm bald gelungen, die Mädchen für sein Fachzu interessieren. Nicht im Traum wäre ihm eingefallen, daß die Begeisterung, mit der die Schülerinnen seinem Vortrag folgten, weniger dem Inhalt seiner Worte galten als seinem Äußeren. Man hielt ihn allgemein für einen hübschen jungen Mann, mit gepflegtem, streng gescheitelten, brünetten Haar, tiefliegenden blauen Augen und feingeschwungenen Lippen. Er war nicht allzu groß, doch durchaus stattlich. Für die Mädchen, die selten Gelegenheit hatten, mit heiratsfähigen, jungen Männern zu verkehren, wurde er bald zum begehrtesten Schwarm.
    Eines Tages hatte der Reverend zu seiner Überraschung festgestellt, daß es Schülerinnen gab, die sich nicht nur für Religion, sondern auch für das Erlernen der lateinischen Sprache interessierten. So hatte er in Absprache mit Mrs. Clifford begonnen, auch diese zu unterrichten. Er bemühte sich dabei auch, die geschichtlichen Hintergründe herauszuarbeiten und die Mädchen in die Welt der römischen Kultur einzuweihen. Eine höchst angenehme Aufgabe, da sich zumindest zwei der Damen wirklich für das Altertum zu interessieren schienen. Die eine war Miss Eliza Boulington, nicht hübsch, doch klug und belesen. Ihre detaillierten Zwischenfragen machten deutlich, daß sie sich auch nach den Unterrichtsstunden intensiv mit der Materie beschäftigte. Die zweite Dame war Miss Mary Ann Rivingston, die nicht minder klug war als ihre Schulkollegin, doch bei weitem erfreulicher anzusehen. Natürlich war er als ehrbarer Geistlicher stets bemüht, die Menschen nur nach ihren inneren Werten zu beurteilen. Und dennoch waren ihm die äußeren Vorzüge von Miss Rivingston nicht verborgen geblieben, obwohl ihre Formen in den schlichten, dunklen Schulkleidern, die ihr Bruder ihr zugestanden hatte, gar nicht richtig zur Geltung kamen. Nicht auszudenken, wie reizvoll Miss Rivingston aussehen würde, wenn sie erst die eleganten, dezent dekolletierten Roben trug, die ihr, ihrem gesellschaftlichen Rang nach, zukamen. Eine Vorstellung, in der Reverend Westbourne gerne schwelgte, bevor er sich selbst streng zur Ordnung rief.
    Miss Rivingston war seine Schülerin und sollte es, wie ihm Mrs. Clifford mitgeteilt hatte, noch einige Zeit bleiben. Er konnte den Entschluß von Lord Ringfield nur gutheißen. Es war ihm eine große Beruhigung, das Mädchen noch weitere vier Jahre hier in den geschützten,ehrbaren Hallen des Internats zu wissen. Um nichts in der Welt wollte er es vermissen, wie sie ihre wißbegierigen Augen auf ihn richtete, wenn sie interessiert seinem Unterricht folgte. Und er freute sich jede Woche erneut auf die Stunden, die sie gemütlich vor dem Kamin in der Bibliothek des Schulhauses verbrachten, in ein Schachspiel vertieft. Stolz konnte er feststellen, daß sich sein Schützling zu einer wahren Meisterin in diesem Spiel entwickelt hatte. Vielleicht würde es ihm mit der Zeit auch noch gelingen, durch sanftes Einwirken Miss Rivingstons Temperament zu zügeln und sie so zu einer passenden Braut für einen aufstrebenden Geistlichen zu erziehen. Eine ebenso reizvolle Vorstellung wie die andere. Und doch: Ihre feuerroten, dichten, langen Locken deuteten darauf hin, daß ihm noch viel Mühe bevorstand, wollte er dieses Ziel erreichen.
    An diesem Nachmittag war er, wie er es gerne tat, wenn seine
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