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Schneegestöber (German Edition)

Schneegestöber (German Edition)

Titel: Schneegestöber (German Edition)
Autoren: Sophia Farago
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entsinne, besteht deine Hauptbeschäftigung in Ringfield Place darin, dich um seine beiden kleinen Söhne zu kümmern.«
    Mary Ann überhörte diesen Einwand. »Warum habe ich nur ständig das Gefühl, als stehe eine Art unsichtbare Mauer zwischen meinem Bruder und mir?« fragte sie mehr an sich selbst als an Kitty gerichtet.
    »Eine Mauer, die ich nicht durchbrechen kann. Schon als Kind konnte ich nie voraussagen, wie mein Bruder denken oder handeln würde. Stets ging er seinen eigenen Weg, und ich hatte das Gefühl, ihm als Schwester eine Belastung zu sein.«
    »Wie du weißt, habe ich keinen Bruder«, antwortete Kitty. »Ich habe das immer bedauert. Doch wenn ich dich so sprechen höre, bin ich geradezu froh darüber. Bruder und Schwester, das scheint eine höchst komplizierte Beziehung zu sein. Auf wie lange, sagtest du, hat dein Bruder den Vertrag mit dem Internat verlängert?«
    Mary Ann reichte ihr wortlos den Brief. Kitty überflog die mit steiler Handschrift flüssig zu Papier gebrachten Zeilen: »Bis zu deinem fünfundzwanzigsten Geburtstag!« rief sie schließlich aus. »Ja, ist denn dieser Mann verrückt geworden? Qué mala suerte! Du kannst doch nicht bis zu deinem fünfundzwanzigsten Geburtstag in diesen Mauern eingesperrt sein! Ich kann mir nicht vorstellen, daß Mrs. Clifford dem zustimmt.«
    Mary Ann lachte bitter auf: »Natürlich tut sie das! John zahlt einen guten Preis.«
    »Aber du wirst doch in Kürze volljährig«, wandte Kitty ein, die es nicht glauben konnte. »Dann kannst du selbst entscheiden, wo du leben und wie du deine Zukunft gestalten willst.«
    »Du vergißt die Klausel in Papas Testament. Ich werde zwar im Dezember dieses Jahres volljährig. Doch die Verfügungsgewalt übermein Vermögen bekomme ich erst nach meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag. Bis dahin verwaltet John meinen Besitz. Es sei denn, ich heirate vorher.«
    Kitty, die sich auf der Bettkante niedergelassen hatte, war wieder aufgesprungen: »Jetzt ist mir alles klar!« rief sie aus. »Das ist der Grund, warum dein Bruder dich hier einsperren will. Er weiß genau, daß du im Pensionat keine Gelegenheit hast, einen passenden Ehemann zu finden. Und so kann er in aller Ruhe noch vier weitere Jahre über dein Eigentum verfügen. Ist es ein großes Vermögen?«
    Mary Ann schüttelte den Kopf: »Nein, nur gerade das, was man ein Auskommen nennt. Ein paar wertvolle Schmuckstücke aus Großmutters Besitz und etwas Geld, das mir monatlich ausbezahlt werden soll. Bis zu meinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr habe ich aber nicht einmal das. Ich bin auf das Taschengeld angewiesen, das John mir zukommen läßt. Und du weißt, wie wenig das ist.« Sie war nun ebenfalls aufgesprungen und riß mit einer ungeduldigen Handbewegung die Tür des breiten Schranks auf, den sie sich mit ihrer Freundin teilte. »Sieh dir nur meine Garderobe an! All diese Kleider aus derbem Wollstoff. Die altmodische Façon, die entsetzlich düsteren Farben! Ich höre Johns Stimme förmlich noch vor mir: Du bist kein dahergelaufenes junges Ding, du bist eine Lady, Mary Ann. Bei deiner Figur und deinem Stand ist diese Garderobe angemessen. Edel und korrekt.« Sie hatte den schulmeisterlichen Tonfall ihres Bruders so treffend nachgemacht, daß sie selbst wider Willen lachen mußte.
    Kitty stimmte in das Gelächter ein: »Ich kann es einfach nicht fassen«, sagte sie, als sie sich wieder beruhigt hatte. Sie selbst zählte sehnsüchtig jeden Tag bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag. Dann würde Tante Jane sie abholen und endlich, endlich mit nach London nehmen. Dort würde ihr »wahres« Leben beginnen. Allein die verbleibenden vier Monate erschienen ihr wie eine halbe Ewigkeit. Und jetzt sollte ihre liebe Freundin Annie noch weitere vier Jahre hier im Internat verbringen? Nein, das konnte sie nicht zulassen. Sie mußte etwas unternehmen. »Hast du denn keine anderen Verwandten, zu denen du ziehen könntest?«
    Mary Ann schüttelte den Kopf und seufzte: »Leider nein. Meine Elternsind tot. Meine Mama hatte keine Geschwister. Papas Schwester war die letzte Verwandte, bei der ich hätte leben können. Doch sie starb im Vorjahr bei diesem schrecklichen Unfall mit der Postkutsche. Ich habe dir davon erzählt. Nun gibt es nur noch eine Cousine meines Vaters. Sie wohnt irgendwo in Schottland, aber wir haben jeden Kontakt zu ihr verloren. Wenn ich ehrlich bin, habe ich weder das Geld noch die Lust, sie zu suchen.«
    »Dann mußt du eben heiraten«, schlug Kitty energisch
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