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Schmutzengel

Titel: Schmutzengel
Autoren: dtv
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spießte ein Stück von beachtlichem Ausmaß auf die filigrane Kuchengabel,
     hob sie zum Mund und – presste die Lippen zusammen.
    Das hatte ich ja völlig vergessen. Ich kann nichts essen, wenn es mir schlecht geht. Trauer und Stress verschließen meinen
     Magen zuverlässiger, als jede Operation es könnte. Das hatte mir im zarten Alter von fünfzehn Jahren einen mehrtägigen Krankenhausaufenthalt
     eingebracht, der der intravenösen Aufpäppelung meiner abgemagerten Gestalt diente. Ich war damals unglücklich verliebt und
     nicht in der Lage gewesen, zu essen. Drei Wochen lang. Drei Wochen totales Fasten sind eine lange Zeit für eine pubertierende
     und noch im Wachstum befindliche Göre von einhundertvierundsiebzig Zentimetern Körpergröße, also wurde ich im Krankenhaus
     zwangsernährt. Zum Glück verliebte ich mich bald auf das Heftigste in den Assistenzarzt, sodass ich am achten Tag selbstständig
     aß und wenige Tage später, sehr zu meinem Leidwesen, entlassen wurde.
    Jetzt saß ich also vor einer vermutlich himmlischen Torte, bekam kein Stück davon herunter und kämpfte mit den Tränen. Ob
     vor Kündigungs- und Liebeskummer oder wegen der Unfähigkeit, dieses Kleinod der Konditorkunst angemessen zu würdigen, war
     mir nicht klar, im Grunde aber auch egal.
    Damals brachten mich noch Kleinigkeiten aus der Fassung.
    Natürlich ärgerte ich mich auch darüber, dass ich das Feld meiner Nachfolgerin überlassen hatte, statt um meinen Platz an
     Gregs Seite zu kämpfen.
    »Mir ist egal, wo sie wohnt, ich jedenfalls wohne hier«, wäre ein guter Satz gewesen.
    Auch der Spruch: »Wenn ihr beide zusammen sein wollt, dann sucht euch doch eine gemeinsame Wohnung. Ich bleibe hier«, hatte
     einen gewissen Reiz, war aber leider ganz unpassend, denn für mich allein war die große Wohnung viel zu teuer.
    Aber alle Gedankenspiele halfen nicht mehr, denn ich hatte in dieser Auseinandersetzung kläglich versagt, so wie ich in den
     meisten Konflikten versage.
    Um mich gedanklich etwas abzulenken, richtete ich mein Augenmerk auf die Zukunft und stellte mir einige wichtige Fragen: Wo
     sollte ich wohnen? Das Arbeitszimmer bei Greg und Sue konnte keine dauerhafte Lösung sein. Ich musste mir also entweder eine
     eigene, kleine, bezahlbare Wohnung suchen oder Greg und meine Seite unseres Bettes zurückerobern. Mir gefiel die Vorstellung
     eines Umzugs ganz und gar nicht, außerdem erwachte langsam mein Kampfgeist. Ich wollte Greg zurück. Und dann gab es noch das
     Problem mit meiner Kündigung. Wo sollte ich arbeiten? Wenn es einer ganzen Branche schlecht geht, haben Arbeitskräfte, deren
     Berufsbild nur in diesem Wirtschaftszweig existiert, schlechte Karten. Und meine Attraktivität für Greg hatte durch die Kündigung
     gelitten. Arbeitslose sind nicht sexy. Arbeitslose bekommen auch keine Wohnung. Ein Teufelskreis.
     
    Während ich das hier schreibe, sitze ich übrigens in meiner neuen Wohnung. Nicht, dass ich vor lauter Langeweile Tagebuch
     schreibe. Ich mache das für den Anwalt, den Lisbeth sicher früher oder später für mich engagieren muss. Er soll meine Version
     der Geschehnisse aus erster Hand erfahren, bevor die Presse mich mit wenig schmeichelhaften Spitznamen bedenkt und öffentlich
     als Bestie darstellt.
     
    Im Oktober letzten Jahres also saß ich im Café vor dem Tortenstück und hing meinen trübsinnigen Gedanken nach. Vermutlich
     haben neunundneunzig Prozent aller einunddreißigjährigen Frauen in einer ähnlichen Situation eine Freundin, bei der sie übergangsweise
     Unterschlupf finden können. Ich hatte, wie bereits gesagt, keine.
    Ich war nach dem Abitur nach Düsseldorf zur Ausbildung in eine Werbeagentur gekommen, weil mein damaliger Schwarm das auch
     tat. Zu Hause hatte er nicht viel von mir wissen wollen, aber als wir beiden Dörfler dann plötzlich in der fernen Großstadt
     eine Art Schicksalsgemeinschaft waren, klammerte er sich förmlich an mich. Offenbar war ich an diesem Ort der einzige Halt
     in seinem Leben. Hat aber nicht lange funktioniert. Der Arme floh zurück in die Eifler Berge und verbringt seine Tage heute
     als stellvertretender Filialleiter an der Kasse eines Drogeriemarktes. Immerhin ist er mit einer ehemaligen Schulkameradin
     verheiratet und inzwischen dreifacher Vater.
    Ich blieb in Düsseldorf, schloss meine Ausbildung ab und machte das, was die meisten jungen Mitarbeiter in Werbeagenturen
     tun: Überstunden. Hunderte. Mein Privatleben fand ausschließlich am
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